Rezension über:

Michael Bockemühl: Bildrezeption als Bildproduktion. Ausgewählte Schriften zu Bildtheorie, Kunstwahrnehmung und Wirtschaftskultur, Bielefeld: transcript 2016, 352 S., ISBN 978-3-8376-3656-7, EUR 34,99
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Rezension von:
Helen Barr
Kunstgeschichtliches Institut, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Jessica Petraccaro-Goertsches
Empfohlene Zitierweise:
Helen Barr: Rezension von: Michael Bockemühl: Bildrezeption als Bildproduktion. Ausgewählte Schriften zu Bildtheorie, Kunstwahrnehmung und Wirtschaftskultur, Bielefeld: transcript 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/09/29902.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Michael Bockemühl: Bildrezeption als Bildproduktion

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Grenzpolizeiliche Befangenheit und ihre jüngere Schwester, die chronische Scheu vor angewandter Wissenschaft, scheinen konstante Begleiterinnen der Kunstgeschichte zu sein. Wie ist es sonst zu erklären, dass die von Michael Bockemühl geprägten Ansätze weiterhin einer Integration in die Bildtheoriegeschichte und den Methodendiskurs - auch im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit ihnen - harren? Vielleicht vermag die durch Karen van den Berg und Claus Volkenandt unlängst zusammengestellte Sammlung von Schriften des 2009 verstorbenen Kunstwissenschaftlers einen erneuten Anstoß dazu liefern. Bockemühl entwickelte seine ebenso eigenständigen wie in sich konsequenten Überlegungen zu Sinnstruktur und Erkenntnispotential von Bildern vor allem in den 1970er-Jahren, angeregt durch das Umfeld am Kunstgeschichtlichen Institut der jungen Bochumer Ruhruniversität. Zu seiner biografischen Verortung und Prägung trugen jedoch nicht nur der Austausch mit Max Imdahl, Manfred Wundram und Gottfried Boehm bei, sondern auch sein enger, aktiv gestalteter Bezug zur Anthroposophie, so als Waldorflehrer und durch seine Tätigkeit in der Treuhandstelle der GLS Bank. 1990 wurde er an die Universität Witten-Herdecke auf den "Lehrstuhl für Kunstwissenschaft, Ästhetik und Kunstvermittlung" (diese Denomination wählte er selbst) berufen. Dort wirkte er erneut gestaltprägend an einer sich im Aufbau befindlichen Institution, unter anderem durch die Mitkonzeption eines allen Studienfächern vorgeschalteten "Studium fundamentale" - ähnliche Gedanken erleben in der Hochschulpolitik gerade wieder ihre Konjunktur. Auf den persönlichen Hintergrund verweisen auch van den Berg und Volkenandt, die mit der Textauswahl nun die "Ansätze von Michael Bockemühl in ihrer ganzen Breite [...] entfalten und einer an bild- und kunsttheoretischen Fragen interessierten Leserschaft auch im Bereich der Ästhetik, Bild- und Medienwissenschaft zugänglich" (12) machen wollen. Konstante Rotationsachse in Bockemühls Arbeiten ist die Auffassung, dass es sich bei der intensiven Bildbetrachtung um einen produktiven Akt handele, der selbstreflexiv gewendet sinn- und erkenntnisstiftend sein kann; es ging ihm, so formulieren es die Herausgeber, "weniger um eine ergebnisorientierte Interpretation von Bildern, als vielmehr darum, genauer zu verstehen, welche epistemologischen Ereignisse der Sehakt selbst bereithält." (8) Damit ist immer "das aktuell betrachtende Subjekt" (12) aufgerufen, eine historische Perspektive auf das Bild gewann Bockemühl ausschließlich unter Bezugnahme auf ästhetische Theorien. In seiner 1982 eingereichten Habilitationsschrift [1] bildet die sehr dichte und sichtbar an Erkenntnisphilosophie geschulte ideengeschichtliche Darstellung erst das fünfte Kapitel und folgte damit auf die vorangestellten Werkanalysen. Diese Reihenfolge ist für die Darlegung und für den Nachvollzug der Bockemühlschen Denkbewegungen nicht unerheblich. In dem Sammelband wird sie nun umgekehrt, indem eine leicht gekürzte Version dieser umfassenden Passage als Methodenfundierung zu Beginn des Buches steht. Damit erfährt die Argumentation an sich keine Bedeutungsveränderung, doch verlangen die teilweise spröde Sprache und eine bis in jedes Detail gewichtete Argumentation dem Erst-Leser einiges an Geduld und Ausdauer ab. Bockemühl-Einsteigern sei daher eher geraten, mit einem der nachfolgenden Texte zu beginnen, in denen die zentrale Idee durch eng an Bildwerken entlang geführte Analysen leichter nachvollziehbar wird. Unverkennbar wurzeln Bockemühls Überlegungen in Grundannahmen der Bildwissenschaft, lösen sich aber von ihr durch eine Verlagerung des Fokus auf den Wahrnehmungsvorgang. Die Auffassung, dass die innere Aktivität des Betrachters als die eigentliche bildproduzierende Konstituente gelten muss, entwickelte Bockemühl an Werken von Mark Rothko und Barnett Newman. Signifikant ist in dem Zusammenhang das bewusste Wiederaufgreifen der von Theo van Doesburg und Wassily Kandinsky eingeforderten Bezeichnung "Konkrete Malerei", da nur diese dem Bild eine "vollständig eigene Seinsweise" (40) zuerkenne. Anders funktioniere eine Bestimmung als "abstrakte Malerei": "Abgezogen von abbildlicher Realität, aber doch letztlich von dort abgeleitet, scheint das abstrakte Bild doch noch mit den traditionellen Kategorien einholbar." (40) Es geht Bockemühl an dieser Stelle um weit mehr als nur um eine bloße Differenz in der Terminologie, es geht ihm darum, eine Ästhetik einzufordern, die sich "auf die Phänomene der jüngsten Kunstentwicklung einlässt. Denn es blieb der bildenden Kunst selbst vorbehalten, durch ihre Erscheinungsformen immer mehr Eigenschaften des Bildes ins Bewusstsein zu heben, die für die traditionelle Ästhetik bislang nicht als eigener Wert, sondern nur als Wert der Vermittlung von Werten reflektiert wurde." (57) Die präzise Reflexion der eigenen Seherfahrung am Bild und die darüber in den Erkenntnisprozess geholten Einsichten werden anschließend in eine strukturierte Vorgehensweise überführt, die auf eine systematische und übertragbare Arbeit mit Bildern zielt. Hier kann nur sehr verknappt dargestellt werden, was in dem Sammelband - trotz leichter Kürzungen gegenüber der Vorlage - auf gut hundert Seiten ausgeführt wird und auch heute, mehr als dreißig Jahre nach seiner Ersterscheinung, eine aufmerksame Reaktion und Diskussion verdient hätte.

Im zweiten Teil der Publikation veranschaulichen sechs kürzere Texte Bockemühls "Praxis des Bildumgangs als Entwicklung der Seherfahrungen" (13). Diese kann besonders in der Auseinandersetzung mit nichtgegenständlicher Malerei überzeugen; ältere Werke werden in einer betrachterfokussierten Analyse tendenziell zu ahistorischen Objekten, geht es Bockemühl doch nicht um die historische Perspektive (und auch bei kennerschaftlicher Zuschreibung zeigten sich die Grenzen seines Vorgehens). Gewinnbringend ist hingegen seine analytische Präzision, wenn er den Umgang mit Begriffskonzepten seziert, wie in dem Aufsatz zu Michelangelo: "Non-finito bezeichnet kein Phänomen. Der Begriff entspricht einem höchst komplexen Urteil, in dem als Grundstruktur schon mitgedacht ist die spannungsvolle Differenz zwischen einer ideellen Wirklichkeit und einer sinnlichen Gestalt, die sie greifbar macht, aber nicht erfüllt." (238) Zentrale Überlegungen im Bockemühlschen System werden naturgemäß in den einzelnen Aufsätzen wiederholt ausgeführt; bedauerlich ist an dieser Stelle vielmehr, dass die Herausgeber sich auf bereits veröffentlichte Texte beschränkt haben - obwohl im Zuge des Editionsprojekts doch auch die Sichtung der im Nachlass befindlichen Schriften erfolgte, wie in der Einleitung unterstrichen wird. Hierzu hätte man sich mehr Informationen gewünscht, auch ein Schriftenverzeichnis der publizierten Texte hätte die hier vorliegende Zusammenstellung sinnvoll ergänzt. Nachvollziehbar ist, dass die Herausgeber im Wesentlichen auf kommentierende Angaben verzichtet haben; die im dritten Teil des Buches ("Wirtschaftskultur durch Kunst") versammelten Texte und ein Interview mit Michael Bockemühl liefern dies teilweise selbst nach. Und sie zeigen auf, wie er die Gestaltung von Prozessen in Unternehmen parallel zu den Erkenntnismöglichkeiten durch Bilder dachte. Dies bleibt, denn fragen kann man Michael Bockemühl dazu nicht mehr.


Anmerkung:

[1] Publiziert wurde sie unter dem Titel "Die Wirklichkeit des Bildes. Bildrezeption als Bildproduktion. Rothko, Newman, Rembrandt, Raphael", Stuttgart 1985.

Helen Barr