Rezension über:

Christian Schmidt-Rost: Jazz in der DDR und Polen. Geschichte eines transatlantischen Transfers (= Jazz under State Socialism; 3), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2015, X + 281 S., ISBN 978-3-631-65309-8, EUR 59,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Martin Lücke
Hochschule Macromedia, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Martin Lücke: Rezension von: Christian Schmidt-Rost: Jazz in der DDR und Polen. Geschichte eines transatlantischen Transfers, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 2 [15.02.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/02/29859.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Christian Schmidt-Rost: Jazz in der DDR und Polen

Textgröße: A A A

Wissenschaftliche (und populärwissenschaftliche) Untersuchungen zum Jazz in Osteuropa existieren schon seit einigen Jahren, allerdings beschränkten sich viele Arbeiten, unter anderem die wegweisende Studie von S. Frederick Starr [1], auf die Sowjetunion und / oder auf einen Zeitrahmen bis 1953, also dem Ende der als Stalinismus zu bezeichnenden Phase. Andere Länder des ehemaligen Ostblocks und ihr Verhältnis zum Jazz beziehungsweise die Zeit des Kalten Krieges standen hingegen lange Zeit weit seltener im Fokus des forschenden Interesses. Dank des mehrjährigen Forschungsprojekts "Jazz im Ostblock", geleitet von Gertud Pickhan (FU Berlin), konnten diese Lücken nun in Teilen geschlossen werden, denn die Dissertation von Christian Schmidt-Rost, der hiermit die "erste wissenschaftlich fundierte Sozial- und Kulturgeschichte des Jazz" (8) sowohl in der Volksrepublik Polen als auch der SBZ/DDR vorlegt, entstammt diesem inzwischen leider beendeten Projekt.

Schmidt-Rosts Studie stellt nach intensiver Durchsicht in der Tat einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des oftmals vergessenen Jazz außerhalb der traditionellen Jazznationen wie den USA dar und ist durch die Wahl der beiden untersuchten Länder sowie des Zeitraums (1945 bis Anfang der 1970er-Jahre) ein spannend zu lesender Baustein für die wechselvolle Rolle und Funktion des Jazz als ein von der Politik argwöhnisch betrachtetes Kulturgut. Insgesamt versucht diese Arbeit fünf logisch hergeleitete Fragen (unter anderem zur Formierung der nationalen Jazzszenen, das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten) zu beantworten, wobei diese für die SBZ/DDR und Polen innerhalb der verschiedenen Kapitel parallel betrachtet werden und so einen direkten Vergleich zwischen beiden Ländern ermöglichen - ohne lästiges Blättern zwischen weit entfernt liegenden Kapiteln. Denn Schmidt-Rosts Arbeit ist überaus detail- und faktenreich gestaltet und dicht geschrieben, hier merkt man die Tiefe der Recherche durch den Autor, der neben Zeitzeugnissen auch Zeitgenossen befragen konnte, und bietet somit in Hinblick auf die oral history einen wichtigen Beitrag.

Beginnend mit einem angenehm knapp gehaltenen chronologischen Überblick zur Entwicklung des Jazz in der SBZ/DDR sowie in Polen gliedert Schmidt-Rost seine Arbeit in die drei Teilbereiche "Zugang", "Aneignung" und "Austausch im transnationalen Kommunikationsraum". Zunächst geht es um die Frage, wie Musiker, aber auch Rezipienten in der SBZ/DDR beziehungsweise in Polen mit Jazz überhaupt in Berührung gekommen sind, wobei Schmidt-Rost einen Fokus auf die Massenmedien wie Schallplatte, Rundfunk, Film und Zeitschriften legt, die - mal mehr mal weniger, mal länger mal kürzer - anfangs in den untersuchten Ländern frei zugänglich waren und so ein erstes Gefühl vom Jazz vermittelten. Genauso wichtig waren aber auch Musiker und andere Mittler, zum Beispiel ehemalige Swings, die in den Jahren vor 1945 beziehungsweise vor dem Zweiten Weltkrieg bereits mit Jazz in Berührung gekommen waren und dieses Wissen dann in Polen beziehungsweise der SBZ/DDR an Interessierte weitertragen konnten. Schmidt-Rost zeigt hier eindrücklich, wie wichtig die Rolle des einzelnen Menschen bei der Verbreitung von Kultur in schwierigen politischen Kontexten eigentlich ist. Sehr detailliert wird auch die besondere Bedeutung des YMCA Polen beleuchtet, der als Keimzelle eines polnischen Jazz gilt. Nach dem Zugang folgte die Aneignung durch eine nachwachsende Generation sowohl durch Abhören und Nachspielen als auch durch Austausch mit Gleichgesinnten.

Bis 1956 verlief die Entwicklung in den Untersuchungsländern in Bezug auf den Jazz ähnlich, doch ab diesem Zeitpunkt änderte sie sich radikal: Während in der DDR eine mehrjährige Eiszeit folgte und der Jazz politisiert wurde, konnte sich die mit Freiheit konnotierte Musik in Polen eigenständig weiterentwickeln, stetig professionalisieren und dadurch neue Impulse setzen, die auch im internationalen Kontext Anerkennung fanden. Auslöser dieses Booms war unter anderem das Jazzfestival in Sopot 1957 mit 50 000 Besuchern (!), das für die polnische Jazzszene bis heute nachstrahlt. Denn infolge dieses ersten Erfolgs durften 1958 sogar polnische Jazzmusiker für einen Auftrittsslot beim legendären Newport Jazzfestival vorspielen, in der damaligen Zeit ein Ritterschlag innerhalb der Jazzszene, und selbst in der Bundesrepublik waren polnische Jazzer aktiv. Die Gründung von Zeitschriften und Musikerverbänden waren weitere sichtbare Zeichen einer allmählichen Aufwertung des Jazz innerhalb des politisch-gesellschaftlichen Systems. Auch musikalisch divergierten sich Polen und die DDR weiter auseinander, denn polnischer Jazz war zum großen Teil melodischer, Jazz in der DDR frei improvisiert.

Diese und viele weitere Geschichten, Tatsachen, aber auch persönliche Schicksale (unter anderem das von Reginald Rudorf, der in den 1950er-Jahren in der DDR Jazzsendungen im Radio moderierte) bringt Schmidt-Rost in seiner Studie dem Leser angenehm gradlinig näher. Das vorliegende Desiderat verlangt nun quasi nach weitreichenderen Forschungen in diesem Kontext, um das Feld des Jazz in Osteuropa zur Zeit des Kalten Krieges noch weiter zu erfassen. Denn der Jazz war und ist nicht nur ein kulturelles und wirtschaftliches Gut, sondern immer auch ein Gegenstand, an dem sich die Herrschenden abarbeiten konnten.


Anmerkung:

[1] S. Frederick Starr: Red and Hot. The Fate of Jazz in the Soviet Union, Oxford 1983. Inzwischen liegt der Band auch in weiteren Auflagen vor, die letzte erschien 2004.

Martin Lücke