Rezension über:

Nigel Nicholson: The Poetics of Victory in the Greek West. Epinician, Oral Tradition, and the Deinomenid Empire, Oxford: Oxford University Press 2016, XIX + 353 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-020909-4, GBP 47,99
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Rezension von:
Christian Mann
Historisches Institut, Universität Mannheim
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Christian Mann: Rezension von: Nigel Nicholson: The Poetics of Victory in the Greek West. Epinician, Oral Tradition, and the Deinomenid Empire, Oxford: Oxford University Press 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 1 [15.01.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/01/28865.html


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Nigel Nicholson: The Poetics of Victory in the Greek West

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Sizilien und Süditalien seien, so verkündet der Autor im Vorwort des Buches (XV), in der anglophonen Altertumswissenschaft bislang vernachlässigt worden. Zum Schließen dieser Forschungslücke möchte er beitragen, indem er die Epinikien für Athleten dieser Region neu interpretiert und dabei archäologische Befunde und das historische Geschehen einbezieht.

In der Einleitung (1-19) erläutert Nicholson mit aller wünschenswerten Klarheit seinen Ansatz und seine Thesen. Zentral ist für ihn die Gegenüberstellung von Epinikien auf der einen Seite mit Erzählungen über die großen Athleten auf der anderen, z.B. über den Boxer Glaukos, der als Knabe mit der bloßen Hand eine eiserne Pflugschar in die richtige Form hämmert, oder über den Pankratiasten Arrichion, der sterbend den Olympiasieg erringt. Diese Erzählungen seien zunächst mündlich tradiert und erst später verschriftlicht worden, Nicholson verwendet in der Folge für sie den Sammelbegriff "hero-athlete narrative". Seine zentrale These ist, dass Epinikion und "hero-athlete narrative" konkurrierende Genres waren, die zeitgleich entstanden und unterschiedliche Bilder von den Athleten und deren Stellung in der Gesellschaft zeichneten.

Das Verhältnis der beiden Genres wird im zweiten Kapitel (51-77) breit ausgeführt: Epinikien wurden für gymnische und hippische Sieger geschrieben, das "hero-athlete narrative" bezog sich ausschließlich auf gymnische Sieger. Epinikien setzten lediglich einen Sieg voraus, das "hero-athlete narrative" bezieht sich nur auf Olympioniken. Nach Nicholson hätten Epinikien den Auftraggeber ausschließlich als Athleten gefeiert und die Aktionsräume außerhalb des Stadions ausgeblendet, während im "hero-athlete narrative" der sportliche Erfolg lediglich den Ausgangspunkt zu weiteren großen Taten bilde. Epinikien würden eine Heroisierung des Siegers vermeiden, während das "hero-athlete narrative" den heroischen Charakter des Helden betone. Epinikien ignorierten den Körper des Athleten, während das "hero-athlete narrative" auf diesen großen Wert lege.

Das dritte Kapitel (79-98) liefert einen knappen Abriss der Geschichte und agonistischen Aktivität in Sizilien und Süditalien, danach folgen fünf Fallbeispiele, anhand derer Nicholson erläutert, wie Epinikien und "hero-athlete narrative" als ideologische Waffen in politischen Machtkämpfen eingesetzt wurden. Epinikien setzten demnach den Sieger in einen panhellenischen Kontext und präsentierten ihn als Mitglied einer homogenen Gemeinschaft von Athleten, während das "hero-athlete narrative" einen stärker lokalen Bezug aufweise. Insbesondere die Deinomeniden von Syrakus hätten auf das Epinikion als Medium der Selbstdarstellung gesetzt, während das "hero-athlete narrative" sich eher gegen den Einfluss der Tyrannen von Syrakus richtete.

Pindars 10. Olympie für Hagesidamos wird von Nicholson interpretiert als Antwort auf die Heroisierung des Euthymos (Kapitel 4), die beiden berühmtesten Athleten Krotons seien als gegensätzliche Pole aufzufassen, da für den Ringer Milon ein "hero-athlete narrative" entstanden sei, er aber kein Epinikion in Auftrag gegeben habe, während es beim Sprinter Astylos genau umgekehrt gewesen sei (Kapitel 5). Beim Boxer Glaukos sei ein "hero-athlete narrative" entstanden, gegen das der Tyrann Gelon mit der Aufstellung von Glaukos' Statue in Olympia vorgegangen sei; damit habe er an die Selbstdarstellung des Glaukos in einem (nicht erhaltenen) Epinikion angeknüpft (Kapitel 6). Der Kontrast zwischen der 12. Olympischen Ode Pindars für Ergoteles und den Erzählungen zu Teisandros belege laut Nicholson, dass die Konkurrenz zwischen Epinikion und "hero-athlete narrative" auch nach dem Ende der Deinomeniden angedauert habe; Erzählungen von heroischen erfolgreichen Athleten seien in Poleis bevorzugt worden, die Söldner vertrieben hatten oder vertreiben wollten (Kapitel 7). Bakchylides' Ode für Alexidamos von Metapont zeige für diese Polis, wie Aristokraten mit dem Epinikion die traditionelle Ordnung verteidigten (Kapitel 8).

Die abschließende "Conclusion" (309-318) wiederholt die Ergebnisse der Fallbeispiele. Generell finden sich in diesem Buch viele Wiederholungen, Nicholson präsentiert seine zentralen Ideen vielfach in leicht modifizierten Formulierungen. Dafür weist das Buch an entscheidenden Stellen Argumentationslücken auf: Der Forschungsstand zur politischen Dimension von Epinikien wird auf sieben Zeilen abgehandelt (51), die Komplexität der Debatte ist Nicholson entweder nicht bewusst oder egal. Auch zu den Erzählungen über heroisierte Athleten vermisst man einen Abriss der Forschungsgeschichte. Vieles von dem, was Nicholson schreibt, ist keinesfalls neu, doch das erfährt man aus dem Buch selbst nicht.

Diejenigen Überlegungen, die innovativ sind, bergen große Probleme. Zunächst fallen einige zweifelhafte oder schlicht falsche pauschale Aussagen auf: Wenn Nicholson schreibt, alle Athleten würden in den Epinikien gleich geschildert (z.B. 1: "As epinician tells it, Greek athletes were a dull and homogenous lot"), so ignoriert er die großen Unterschiede innerhalb dieser Gattung. Denn auch die Aussage, Epinikien würden die Auftraggeber allein als Athleten präsentieren, ist unzutreffend und überrascht in einem Buch, das die Deinomeniden im Titel trägt: In den Epinikien für Hieron wird auf dessen Macht, auf dessen Reichtum, auf dessen militärischen Erfolge und vieles andere Bezug genommen. Und die vielen Parallelen, die Pindar in der 1. Olympischen Ode zwischen dem Tyrannen und dem Heros Pelops zeichnet, widerlegen Nicholsons These, in den Epinikien werde eine Angleichung von Athleten an Heroen vermieden.

Das Hauptproblem ist aber der allzu optimistische Umgang mit den Erzählungen über Athleten. Nicholson ist fest davon überzeugt, deren Entstehungskontext fixieren zu können: "The hero-athlete narrative has thus been modeled much like epinician itself, as a product produced and deployed by a political agent at a particular juncture in a particular community for particular political purposes" (311). Das offensichtliche Problem dabei ist die Quellenlage: Die angeführten Episoden sind bei Pausanias oder anderen hellenistischen und kaiserzeitlichen Autoren überliefert. Man würde eigentlich starke Argumente erwarten, warum sich aus diesen späten Texten so präzise Entstehungskontext und -absicht rekonstruieren ließen, doch diese werden nicht vorgebracht. Ein Beispiel möge zur Illustration der Problematik genügen: Nicholson leitet aus Kallimachos ab, dass für Eutyhmos von Lokri noch zu dessen Lebzeiten ein Heroenkult eingerichtet worden sei, und bemerkt dazu lapidar: "This evidence should be trusted" (106). So einfach liegt die Sache nicht: Im hellenistischen Alexandria befasste man sich ausgiebig mit den glorreichen Athleten der Vergangenheit, und dies geschah in einem Umfeld, in dem die Heroisierung lebender Menschen sehr viel geringere Probleme aufwarf als in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. Man sollte zumindest diskutieren, ob hier nicht eine Projektion vorliegen könnte.

Als Fazit ist festzuhalten, dass es sich bei dem anzuzeigenden Buch um ein sehr ambitioniertes, aber wenig gründliches und allzu spekulatives Werk handelt.

Christian Mann