Rezension über:

Michael Schäfer: Eine andere Industrialisierung (= Regionale Industrialisierung; Bd. 7), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016, 477 S., ISBN 978-3-515-11318-2, EUR 72,00
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Rezension von:
Philipp Reick
The Hebrew University of Jerusalem
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Philipp Reick: Rezension von: Michael Schäfer: Eine andere Industrialisierung, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15.10.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/10/28924.html


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Michael Schäfer: Eine andere Industrialisierung

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Der Titel von Michael Schäfers Studie zum sächsischen Textilexportgewerbe im "langen 19. Jahrhundert" nimmt das zentrale Argument der Arbeit bereits vorweg: Die Transformation der Textilexportgewerbe in Sachsen, so der Autor, stehe beispielhaft für eine andere Industrialisierung, die sich wesentlich vom vermeintlichen Prototyp der Industrialisierung unterscheide. Letztere zeichne sich bekanntermaßen durch zügige Maschinisierung, das rasche Verschwinden von Verlagssystemen, die zunehmende Zentralisierung von Kapital und das unaufhaltsame Anwachsen einzelner Produktionsbetriebe aus. Gegen diesen Industrialisierungsbegriff bringt Schäfer das Beispiel der sächsischen Textilwirtschaft in Stellung.

Die Studie ist in eine Einleitung und ein Fazit sowie vier chronologische Blöcke gegliedert. Auf die Einleitung, die überzeugend Lücken im bisherigen Forschungsstand ausweist, folgt zunächst ein Überblickskapitel, das die Lage des sächsischen Textilexportgewerbes zum Ausgang des 18. Jahrhunderts darstellt. Kapitel 3 beleuchtet die turbulente Zeit von der Französischen Revolution über die Auswirkungen der Kontinentalsperre bis zum Ende der Befreiungskriege. Die unterschiedlichen Bewältigungsstrategien der sächsischen Textilexportgewerbe auf den zunehmenden Industrialisierungsdruck der Jahrzehnte zwischen Wiener Kongress und Jahrhundertmitte bilden den Gegenstand von Kapitel 4. Hier kann Schäfer zeigen, dass die Gewerbe sehr unterschiedliche Produktions- und Vermarktungswege einschlugen, wobei eine Zurückhaltung von Maschineneinsatz nicht als betriebswirtschaftliche Sackgasse verstanden werden dürfe. Kapitel 5 widmet sich schließlich der endgültigen Durchsetzung von Globalisierung und Industrialisierung von der Jahrhundertmitte bis ins frühe 20. Jahrhundert. Der Anhang verfügt neben dem üblichen Anmerkungsapparat über ein Glossar zur Textilwirtschaft, das sich besonders für mit der Textilproduktion weniger vertraute Leser/Innen als hilfreich erweist.

Anders als Hubert Kiesewetters Standardwerke zur sächsischen Industrialisierung konzentriert sich Schäfer ganz bewusst auf die Garn verarbeitenden Branchen. Gerade dieser Fokus erlaubt ihm zu zeigen, dass sich Sachsens Industrialisierung keinesfalls als sprunghafter oder "revolutionärer" Prozess denken lässt, der alle Sektoren gleichermaßen erfasst habe. In den sächsischen Textilexportgewerben zeige sich vielmehr, dass protoindustrielle Strukturen und Akteure durch erstaunliche Anpassungsfähigkeit und Langlebigkeit gekennzeichnet waren. Zentral ist dabei die Erkenntnis, dass verarbeitende Industrien zur Massenkonsumgüterproduktion anders als die Leitsektoren der Schwer- und Montanindustrie eine unterschiedliche, eben eine "andere" Industrialisierung durchliefen. Im Gegensatz etwa zu Kohle, Stahl und Maschinenbau konnten sich hier kleinere, dezentrale Strukturen halten. Diese Schlussfolgerung gibt wichtige Impulse nicht nur für die hier einschlägige Wirtschafts- und Industriegeschichte, sondern auch für die weitere Sozialgeschichte. Dezentrale Produktion mit einem großen Anteil an outsourcing ermöglichten den sächsischen Textilunternehmen flexibel auf Konkurrenzdruck, Marktschwankungen oder politische Absatzschwierigkeiten wie etwa Zölle, Blockaden oder militärische Konflikte zu reagieren. Doch bedingten solche dezentralen Strukturen zwangsläufig auch soziale Bruchstellen, die sich fundamental von zentralisierter Fabrikarbeit unterschieden. Für verlegte Kleinmeister oder scheinselbständige Heimindustrielle etwa war eher die marktvermittelte als die betriebliche Ausbeutungserfahrung Ausgangspunkt ihrer Kritik. Diese unterschiedlichen Erfahrungen ergaben immer wieder Unterschiede in der Organisation der Beschäftigten, die mitunter auch zu Konflikten innerhalb der arbeitenden Bevölkerung führten. Das hier exemplarisch vorgestellte "andere" Verständnis von Industrialisierung trägt so auch zu einem "anderen" Verständnis der Protest-, Gewerkschafts- und Arbeitergeschichte bei.

Schäfers umfassende Studie steht dabei beispielhaft für zwei wichtige Trends der jüngeren Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Wie eingangs angedeutet zeigt Schäfer zum einen überzeugend, dass der Wandel der sächsischen Textilproduktion schwerlich als revolutionärer Bruch verstanden werden kann. Der Übergang dessen, was Marx als Schritt von der formellen zur reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital bezeichnet, vollzog sich in Sachsen weder ruckartig noch linear. Damit unterstreicht Schäfer, dass sich solche Subsumtionsprozesse in der Tat zeitlich parallel und häufig miteinander verzahnt gestalteten - ein Argument, dass inzwischen breiten Anklang in der historischen Industrialisierungsforschung findet. [1]

Zum anderen steht Schäfers Studie stellvertretend für die Öffnung der jüngeren Wirtschafts- und Sozialgeschichte für die Sphären der Zirkulation und des Konsums, die lange zugunsten der alles beherrschenden Sphäre der Produktion ausgeblendet blieben. Der Untertitel dieser Arbeit spricht dabei ganz explizit vom sächsischen Textilexportgewerbe und nicht etwa nur von der sächsischen Textilproduktion. Dank dieser Ausweitung des Analyserahmens gelingt es dem Autor, nicht nur Produktionsveränderungen zu verdeutlichen, sondern diese in die sich gleichsam wandelnden Bedingungen des Marktes einzubetten. Diese Offenheit gegenüber dem Markt als wesentliches Strukturmerkmal der Industrialisierung kennzeichnet nicht nur die vorliegende Studie, sondern einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, der sich spätestens seit den ausgehenden 1990er Jahren auch in internationalem Kontext bemerkbar macht. [2]

Kritisch zu vermerken bleibt lediglich, dass die Studie von weiteren Vergleichen zur kontinentaleuropäischen Textilproduktion (nicht des Handels, hier sind Vergleiche zahlreich), wie der Autor sie kenntnisreich in der Einleitung vornimmt, profitiert hätte. Dem stand wohl nicht zuletzt der große Detailreichtum der Arbeit entgegen, der sie stellenweise ein wenig langatmig macht. Letzteres ist jedoch nicht zuletzt dem Anspruch des Autors geschuldet, ein umfassendes Standardwerk zur Geschichte der sächsischen Textilexportgewerbe vorzulegen. Dies ist Schäfer, einem ausgewiesenen Kenner der sächsischen Wirtschaftsgeschichte, zweifellos gelungen.


Anmerkungen:

[1] Vergleiche dazu: Thomas Welskopp: "Das Unternehmen als Körperschaft. Entwicklungslinien der industriellen Bindung von Kapital und Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert", in: Unternehmen Praxisgeschichte: Historische Perspektiven auf Kapitalismus, Arbeit und Klassengesellschaft, hg. Von Thomas Welskopp, Tübingen 2014, 229-255.

[2] Siehe etwa Paul Nolte: "Amerikanische Sozialgeschichte in der Erweiterung. Tendenzen, Kontroversen und Ergebnisse seit Mitte der 1980er Jahre", Archiv für Sozialgeschichte 36 (1996), 363-394.

Philipp Reick