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Kristina Meyer: Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945-1990 (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts; Bd. 18), Göttingen: Wallstein 2015, 549 S., ISBN 978-3-8353-1399-6, EUR 42,00
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Rezension von:
Johannes Platz
Bonn
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Johannes Platz: Rezension von: Kristina Meyer: Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945-1990, Göttingen: Wallstein 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15.10.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/10/27554.html


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Kristina Meyer: Die SPD und die NS-Vergangenheit 1945-1990

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Kristina Meyer hat sich in ihrer mit dem Willy-Brandt-Preis ausgezeichneten Dissertation der Vergangenheitspolitik der SPD angenommen und durchmisst diese vom Zeitpunkt der Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 bis zum Ende der alten Bundesrepublik 1990. Sie behandelt das Thema chronologisch und im Hinblick auf wiederkehrende Sachthemen und kommt dabei immer wieder auf Schuldfragen, Wiedergutmachung, Verfolgtenorganisationen, Auseinandersetzungen und Entscheidungen um die Verjährung der NS-Verbrechen, Geschichts- und Erinnerungspolitik sowie Fragen der Geschichtsschreibung der Widerstands- und Verfolgungsgeschichte zurück. Kristina Meyer vertritt die These, dass der vergangenheitspolitische Weg der SPD von dem ständigen Widerspruch zwischen einer gerechten Aufarbeitung der NS-Geschichte und dem Streben nach einer "inneren Versöhnung" geprägt war, ein Kurs, für den über lange Jahre Willy Brandt stand. Ob dies ein dialektischer Zug der Politik Brandts und der SPD ist, wie die Autorin wiederholt vermerkt, möchte der Rezensent dahingestellt sein lassen. Der Forschungsstand zum Thema Vergangenheits- und Geschichtspolitik in der Bundesrepublik ist u.a. mit den wegweisenden Arbeiten von Norbert Frei, Jeffrey Herf und Edgar Wolfrum gut umrissen. Der Umgang der SPD mit der NS-Vergangenheit für den Zeitraum der alten Bundesrepublik war bislang noch ein Desiderat. Meyers Arbeit leistet jedoch mehr, als lediglich eine Forschungslücke zu schließen.

In sechs Kapiteln, die politischen Zäsuren und Richtungswechseln folgen und somit einer bewährten Periodisierung, bearbeitet Kristina Meyer ihr Sujet. Das erste Kapitel befasst sich mit dem "Enthusiasmus und der Enttäuschung" der unmittelbaren Nachkriegszeit von 1945-1949. Intensiv diskutierten sozialdemokratische Genossinnen und Genossen in dieser Phase die Schuldfrage am Nationalsozialismus, seinen Verbrechen und dem Krieg. Wie die gesamte Gesellschaft wiesen auch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die Kollektivschuldthese zurück und verfielen dabei in Haltungen der Schuldabwehr. Sie sahen eine deutliche Scheidung zwischen verantwortlichen Eliten und der Bevölkerung. Allerdings ließ die SPD bei der Aufnahme ehemaliger NSDAP-Parteigenossen Vorsicht walten. Früh positionierte sich die Partei gegen die gesellschaftlich vorherrschende Meinung in der Aussöhnung mit den Juden und mit Israel, wobei von israelischer Seite Anfangs Reserviertheit vorherrschte.

Im zweiten Kapitel, das die Jahre von 1949 bis 1959 umfasst, wird die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unter der Überschrift "Opposition und Opportunismus" behandelt. Dabei sind die Haltungen der SPD von einer gewissen Widersprüchlichkeit geprägt gewesen. Einerseits forderte sie im Konsens mit den anderen im Bundestag vertretenen Parteien, die "Naziriecherei" der Entnazifizierung zu beenden. Andererseits meldete sie bei der Wiederverwendung Eliteangehöriger aus der NS-Zeit, wie Hans Globke im Bundeskanzleramt, Widerspruch an. Auch das Engagement für ehemalige Kriegsgefangene und erste Kontakte zum Verband der HIAG (Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit) der Waffen-SS mögen erstaunen. Andererseits positionierte sich die SPD eindeutig in der Bekämpfung des Rechtsextremismus, und ohne ihre Stimmen hätte die Bundesregierung unter Konrad Adenauer das Gesetzesvorhaben zur Wiedergutmachung gegenüber Israel nicht durchbekommen. Im Laufe der 1950er-Jahre wandte sich die SPD dem Widerstand des 20. Juli zu und passte sich damit auch dem sich langsam wandelnden Widerstandsbild an, vernachlässigte dabei allerdings den Widerstand aus den eigenen Reihen zunehmend.

Im Zeitraum, der an die Verabschiedung des Godesberger Programms 1959 anschloss, schärfte sich das vergangenheitspolitische Profil der SPD. Zugleich lieferte die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz", die von Reinhard Strecker mit Unterstützung von SDS-Mitgliedern auch unter Verwendung von archivalischen Quellen aus der DDR erstellt wurde, jedoch einen der Anlässe für den Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD gegenüber dem ehemaligen Hochschulverband der SPD. In den Auseinandersetzungen, die an die antisemitische Schmierwelle im Winter 1959/1960 anschlossen, fand die SPD eine klarere Sprache, die den Antisemitismus und die Täter klarer analysierte. Die SPD positionierte sich früher als die Unionsparteien für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel. Auch wenn es noch bis 1979 dauern sollte, bis die Verjährung von Mord aufgehoben wurde, engagierte sich die SPD intensiv in der Verjährungsfrage in den Jahren 1965 und 1969. Auf der anderen Seite änderte sich die Semantik in vergangenheitspolitischer Hinsicht, in der auch der SPD-Kanzlerkandidat Willy Brandt in Reden einen Schlussstrich unter die Nachkriegszeit zu ziehen versprach und einer inneren Versöhnung das Wort redete.

Das nächste Kapitel umfasst die Große Koalition ab 1966 und die Kanzlerschaft Willy Brandts seit 1969. In der großen Koalition übte sich die SPD in einem "pragmatischen Brückenschlag" indem sie von der NS-Vergangenheit des Kanzlers Kurt Georg Kiesinger absah und das Bündnis einging. Die SPD und die Neue Linke entfremdeten sich - auch mit vergangenheitspolitischen Argumenten - in der Frage der Notstandsgesetze, des Widerstandsrechts und durch einen generationellen Bruch. Die Neue Ostpolitik, die der Außenminister und Kanzler Willy Brandt einschlug, wird von der Autorin unter vergangenheitspolitischen Vorzeichen interpretiert. Mit dem symbolträchtigen Kniefall Brandts habe dieser jedoch dann einen "anderen Schlussstrich" unter die Nachkriegszeit gezogen.

Die Kanzlerschaft Helmut Schmidts seit 1974 ist mit "Identitätssuche in Krisenzeiten" überschrieben. Die sozialdemokratische Verfolgtenorganisation Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten (AvS) habe sich am Tiefpunkt ihrer Organisationsgeschichte befunden. Während Konservative im Rahmen der Tendenzwende-Debatte den Wertewandel mit einem Rückgang des Geschichtsbewusstseins in Verbindung brachten, entwickelte sich auch in der Sozialdemokratie ein neues Geschichtsbewusstsein, gewissermaßen als Antwort. Ein Katalysator für die Besinnung auf die Zeitzeugenschaft der AvS-Mitglieder sei die Fernsehserie "Holocaust" gewesen. Doch nicht nur diese Zeitzeugenschaft, auch die Selbsthistorisierung der Partei unter Einbezug professioneller Historiker nahm zu.

Im abschließenden Kapitel setzt sich Meyer mit der Konturierung der Geschichtspolitik in der ersten Hälfte der Kanzlerschaft Helmut Kohls auseinander. Der christdemokratische Politiker betrieb eine aktive und intensive Geschichtspolitik der Normalisierung der deutschen Geschichte. Nicht nur bei seinem Staatsbesuch in Israel, auch mit seinen Plänen zu einem Haus der Geschichte der Bundesrepublik, einem Deutschen Historischen Museum und einem zentralen Mahnmal, das die Opfer- und Tätergruppen des Nationalsozialismus nivellierte, zog er die Kritik der Sozialdemokratie auf sich. Mit der aus den Neuen Sozialen Bewegungen hervorgegangenen Partei der GRÜNEN war zu diesem Zeitpunkt ein neuer Akteur auf das politische Spielfeld gekommen, mit dem die SPD auch Entschädigungsfragen teilweise gleichzog und sich der "vergessenen Opfer" annahm.

Meyer hat ein beeindruckendes Werk vorgelegt, das souverän neben Norbert Freis Buch über "Vergangenheitspolitik" stehen kann und dieses nicht nur ergänzt. Liest man Kristina Meyers Buch intensiv, erhellt es auch Sachverhalte, die außerhalb von Meyers Untersuchungszeitraum liegen und man versteht Positionierungen von Historikerinnen und Historikern, die der Sozialdemokratie nahestehen, klarer. Keineswegs waren diese in ihren Positionierungen Parteisoldaten. Dennoch greifen sie entschieden auf Deutungsmuster zurück, die in der sozialdemokratischen Vergangenheitspolitik geprägt wurden. So gesehen erschließt sich praktisch ein Deutungsrahmen. Sei es die Zurückweisung der Kollektivschuldthese (die eindeutig weniger Akteure vertreten haben, als ihre diskursiven Gegner und deren Äußerungen annehmen lassen), sei es die mangelnde Einsicht in den volksgemeinschaftlichen Charakter des NS: in aktuellen oder auch schon vergangenen Positionierungen werden diese Positionen reaktiviert, etwa jüngst in der Bewertung der Volksgemeinschaftsforschung oder 1996 in der Rezeption der Thesen Daniel Jonah Goldhagens durch der Sozialdemokratie nahestehende Historiker und Historikerinnen.

Das Buch nimmt insgesamt eine kritisch-solidarische Haltung zur SPD-Parteigeschichtsschreibung ein, bleibt aber im Urteil immer ausgewogen. Der Rezensent hätte sich an manchen Stellen eine stärkere Zuspitzung des Urteils gewünscht. Terminologisch fiel auf, dass Meyer von "Parteigenossen" spricht, wo Genossen gemeint sind. Während die Sichtweisen der SPD gut dargestellt werden, fällt auf, dass die Historiographie-Geschichte demgegenüber etwas stärker hätte akzentuiert werden können, zum Beispiel durch die Rezeption von Büchern wie Nicolas Bergs "Die westdeutschen Historiker und der Holocaust". Ebenso hätte man sich generell mehr Einblick in die Welten der Arbeiterbewegungsgeschichtsschreibung gewünscht, nicht nur im Hinblick auf den Nationalsozialismus. Denn dass diese in einem Teil des Untersuchungszeitraums einen Boom erlebte, dürfte unbestritten sein. Gelegentlich vermisst der Rezensent Bezugnahmen auf das, was man die "Realgeschichte" des Nationalsozialismus nennen könnte. Pointierter hätten ihm an manchen Punkten Rechnung getragen werden können, etwa bei der inhaltlich sehr brisanten und in Meyers Urteil sehr klugen Beschreibung des Umgangs der SPD mit der HIAG und der Waffen SS, hätte man auf das Buch von Martin Cüppers verweisen können. Schließlich stellt sich die Frage, ob man für die vorliegende Fragestellung nicht auch - auf Literaturbasis - einen Einblick in die Exildebatten - etwa zwischen den sogenannten Vansittartisten und dem SOPADE Parteivorstand im Exil - hätte nehmen können. In diesen Debatten wurden viele der später vergangenheitspolitischen Fragestellungen bereits berührt. Abseits dieser kleinen Monita hat Meyer aber - das kann man schon jetzt sagen - ein Standardwerk für die Parteigeschichte der SPD und damit auch für die Geschichte der alten Bundesrepublik verfasst.

Johannes Platz