Rezension über:

Wolfram Siemann: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München: C.H.Beck 2016, 983 S., ISBN 978-3-406-68386-2, EUR 34,95
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Rezension von:
Werner Drobesch
Alpen-Adria-Universität, Klagenfurt
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Werner Drobesch: Rezension von: Wolfram Siemann: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München: C.H.Beck 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/28596.html


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Wolfram Siemann: Metternich

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Es gibt keinen Metternich-Mythos, wohl aber einen Napoleon-Mythos und einen Bismarck-Mythos. Warum der österreichische Staatskanzler nie einen Mythos-Status erlangte und infolge dessen nie zu einer politischen Kultfigur wurde, wird nach der Lektüre des fast 900-seitigen Bandes von Wolfram Siemann evident. Der "Kutscher Europas" wurde von der dem Nationalismus als Paradigma verhafteten Historiografie zum Inbegriff des Antimodernen stigmatisiert. Mit dieser Sichtweise wurde er bis in unsere Tage im Rahmen einer Nationalgeschichtsschreibung zu einem Fremdkörper, weil er mit seinem politischen Konzept, das "die Nationalität als Baustein und Wesensmerkmal eines Staates für gefährlich und verwerflich erklärte" (866), zwangsläufig in Gegnerschaft zum Konstrukt der "Nation" stand. Damit war der Topos von Metternich als Inkarnation des antiliberalen und antinationalen Reaktionärs grundgelegt, sowie die Komplementarität des Namens Metternich mit dem politischen System des Vormärz ("Metternichsche System") geschaffen.

Dieses Metternich-Bild hielt sich über Historikergenerationen hinweg bis in unsere Tage, wie Siemann in einem knappen Überblick zu den zahlreichen "Metternich-Biografen" festhält. Am Beginn der Metternich-Kritiker stand der einstige "Hofgeschichtsschreiber" Josef von Hormayr, der - von "Rachsucht" beflügelt (18) - aus Metternich "einen kalten Intriganten, Absolutisten und Unterdrücker allen geistigen Aufschwungs, frivol, oberflächlich, charakterlos" (18) machte und somit jenen Prototyp eines Hassbildes konstruierte, an dem sich die nachfolgenden Vertreter der kleindeutschen Historiografie orientierten, die - wie Heinrich von Treitschke - in Metternich den "Verräter an der deutschen Nation", den "Undeutschen", den Österreicher sowie den "Intriganten in der Diplomatie" (19) erblickten. Bei Viktor Bibl, zunächst noch Deutschnationaler, aber bald Nationalsozialist, potenzierte sich diese Metternich-Aversion, indem er ihn zum "Dämon Österreichs" stempelte. [1] Erst die Jahre nach 1918 bis 1938 und insbesondere der "Schock des Zweiten Weltkrieges und des erneuten Zivilisationsbruches" (19) führten - die Impulse kamen von der nichtdeutschsprachigen Geschichtsschreibung (USA, England, Frankreich) - zu einer ersten Modifikation der Beurteilung Metternichs. Was sich bei Constantin de Grunwald [2] und Algernon Cecil [3] in den 1930er-Jahren andeutete, führte nach 1945 zu einer differenzierten Betrachtung, weil man sich neuen Perspektiven öffnete. Man begann in Metternich "den Europäer, den Meister der internationalen Gleichgewichtspolitik und den Friedensstifter" (19) zu erblicken. Der Bogen dieser neuen Autorengeneration reicht von Alan Warwick Palmer [4] über Paul W. Schroeder [5], "der bahnbrechend dazu beitrug, Metternichs Diplomatie neu zu bewerten" (19), bis zum ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger [6], der sich im Zusammenhang mit Castlereagh ebenso umfassend dem Diplomaten Metternich widmete wie zuletzt der tschechische Historiker Miroslav Šedivý. [7] Dagegen verhielt sich die deutschsprachige Historiografie zurückhaltend. Lediglich der Österreicher Helmut Rumpler [8] setzte sich in Anknüpfung an die angloamerikanischen Biografen mit Metternich "jenseits von klein- oder großdeutsch im europäischen Zusammenhang" (20) auseinander und vertrat eine Position, die deutlich vom Metternich-Porträt des wirkungsmächtigen, letztlich aber doch auch "ambivalenten" Heinrich von Srbik [9] abwich. Dessen 1925 erschienene Metternich-Biografie ist von einem "biologischem Rassismus" (22f.), Vorstellungen vom "Herrenmenschentum" sowie von einer "Kette abwertender Urteile" (24) bestimmt. Andererseits sind - so Siemann - bei genauer Lektüre in dieser "biblische Dimensionen" erlangenden, "lange kanonisierten Biografie" (30) auch Widersprüchlichkeiten zu entdecken, aus denen sich ein "guter" wie auch ein "böser" Metternich herauslesen lässt (30). Tatsache ist, dass seit Srbik bis dato - abgesehen von "populären Lebensbeschreibungen aus der Hand von [...] Hobbyhistorikern, die [...] durch die hohen Auflagen ihrer Werke nicht selten kräftig dazu beitrugen, bestehende Klischees zu verbreiten und zu verfestigen" (20) - keine fundierte deutschsprachige, auf Quellenforschung basierende Metternich-Biografie mehr erschienen ist.

In diese Lücke stößt die Siemannsche Metternich-Biografie, die als Gegenschrift zu Srbiks Werk, einem "zweibändigen Gebirge von 1431 Seiten" (22), zu sehen ist. Siemanns "Anti-Srbik" erweist sich als eine umfassende Darstellung, die so fesselnd-analytisch und argumentativ stringent geschrieben ist, dass ungeachtet des Umfanges nie ein Hauch von Langweile entsteht. So sehr ist der Autor - neue Quellen berücksichtigend - bemüht, Metternich in der ganzen Breite und Fülle seiner Persönlichkeit und seines politischen Agierens zu erfassen. Am Ende steht eine Neubewertung des österreichischen Staatskanzlers. In diese fließen Kenntnisse und Erkenntnisse eines langen Forscherlebens, das sich umfassend dem Vormärz und insbesondere den Jahren 1848/49 gewidmet hat, ein. [10] Sie bezeugen die Expertise des Verfassers, der sich bereits in einer 2010 erschienenen "schmalen Biografie" mit dem "Staatsmann zwischen Restauration und Moderne" beschäftigte und in dieser sein "Bild von Metternich in Umrissen" skizzierte. [11] Diese "Skizze" bildete die Grundlage für das vorliegende opus magnum, das den vorläufigen Endpunkt in einer langen Reihe von Metternich-Biografien, die "ausnahmslos von einem fast statischen Persönlichkeitskern" (14) ausgingen, bildet. Siemanns Bestreben ist es, dieses tradierte Bild nicht nur zu relativieren, sondern auch zu revidieren, indem er andere, bisher vernachlässigte Schichten Metternichs freilegt. Denn in ihm vereinten sich "so viele historische Epochen [...], wie sie selten ein Staatsmann" (11) erlebt(e). Sie hat so viel mehr zu bieten als jene seiner politischen Widersacher und (wenigen) Verbündeten, allein ob der Tatsache, dass er fast vierzig Jahre die europäische Politik und den Habsburgerstaat gegen die ihm suspekten Zeitströmungen des Liberalismus wie Nationalismus zu gestalten versuchte.

Und Siemann wird den an sich gestellten Ansprüchen gerecht. Er zeichnet das farbige Bild eines Entwicklungsprozesses, eingebettet in die ihn umgebenden Zeitgeschehnisse. Die Umbrüche in den knapp mehr als acht Lebensdezennien waren gewaltig. Vor dem zeitlichen Hintergrund und im Kontext von "sieben vergangenen Landschaften", welche die inhaltliche Struktur des Bandes vorgeben, lässt Siemann Metternichs curriculum vitae Revue passieren. Das Spektrum eines langen Lebensweges - verteilt auf 16 Kapitel - ist breit. Es reicht von der Herkunft und dem Aufstieg der Familie über Metternichs Gesandtschafts- bzw. Botschaftererfahrungen in Dresden, Berlin und Paris oder seine gestaltende Rolle am Wiener Kongress und als internationaler Krisenmanager etwa im Kontext mit der Julirevolution 1830, seine Visionen zur Gestaltung der Habsburgermonarchie und Europas im Sinne einer friedlichen Koexistenz, die Fragen der "Organisation der Herrschaft", das "Wetterleuchten" der Revolution 1848, den Lebensabend nach der Rückkehr aus dem Londoner Exil bis zu seinem Tod "am Samstagnachmittag des [11.] Juni 1859" in seiner Wiener Villa, als er "sanft und schmerzlos" verstarb. Siemann geht es in seiner Darstellung zwar primär, aber nicht ausschließlich um den Staatsmann, Diplomaten und Politiker, sondern auch um den Privatmann, den Ehegatten von drei Ehefrauen, die er alle überlebte, den Vater und - er spricht in diesem Zusammenhang von einem "Frauenversteher" - um den Mann mit einem Faible für Frauen, von denen ihm, der "Reinkarnation Casanovas in österreichischer Version" (561), manche zur Geliebten wurde. Von Interesse ist ebenso - weil dieses Momentum in nahezu allen Biografien ausgespart bzw. nur peripher thematisiert wird - der Abschnitt über den "Ökonomen" Metternich, und das in mehrfacher Hinsicht. Zum einen mutierte Metternich in Übernahme wirtschaftsliberaler Gedanken vom bloßen Feudalherrn zum modernen frühindustriellen Fabrikanten und Unternehmer. Als "Sozialpatriarch" nahm er bereits "spätere wohlfahrtsstaatliche Prinzipien vorweg", "etwa wenn er in Plaß [in Böhmen] für seine Arbeiter eigene einstöckige Wohnhäuser in der Nähe der Eisenhütte bauen ließ" (761) oder rückblickend "Friedrich List zu seinen positiven Gewährsleuten" (763) zählte. Der Feudalherr Metternich erkannte die Zeichen der Zeit, wenn er sich zum modernen Agrarunternehmer im Sinne der Thaerschen Vorstellungen von der "rationellen Landwirtschaft" wandelte und seine Weingüter "auf eine moderne, wirtschaftlich ertragreiche Weise" umstellte und "das Weinbaugeschäft nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen führte" (751).

Was Siemann liefert, ist eine teils radikale Neuinterpretation des Politikers und Menschen Metternich, der im Spätherbst seines Lebens die Vergeblichkeit des Bemühens, ja sein Scheitern erkennen musste. Letztlich zwangen ihn die "dynastischen Hausmachtinteressen" (867) und die Zeitströmungen der Moderne, deren Geschichtsmächtigkeit er sich bewusst war, zur Kapitulation. Um es mit einer Formulierung des Verfassers zu beschreiben: "Er verstand die Probleme der neuen Zeit zu analysieren, sah tiefer in die gesellschaftlichen Umbrüche und entwickelte eine eigene, neue Position, mit der er versuchte, den Herausforderungen des 'Laboratoriums der Moderne' zu entsprechen", um dann doch feststellen zu müssen, dass er "entweder zu früh oder zu spät geboren" worden war (862). Die für den "Kutscher Europas" charakteristische Mischung aus Antiliberalismus und Antinationalismus, sowie seine "defensive Sicherheitspolitik" mit dem Ziel der Friedenserhaltung durch einen Interessenausgleich der europäischen Pentarchie erwies sich zunehmend als brüchig, ungeachtet des Umstandes, dass er sich als ein auf vielen Gebieten beschlagener Politiker, als geschickter Taktiker, aber auch als ein Mann mit Weitblick, eben als "Stratege und Visionär", erwies. Siemann bringt das Metternichsche Credo auf den Punkt, wenn er bezüglich des Umgangs mit dem Nationalitätenproblem in der Habsburgermonarchie schreibt, sein "Reformprogramm verfolgte das Konzept von der 'Einheit in der Vielheit', eine Formel, die für den deutschen Föderalismus charakteristisch ist. Damit erscheint das "Individuum mit multiplen Identitäten", nämlich Metternich, als weitsichtiger Reformpolitiker, der das Jahrhundertproblem zu lösen versuchte, verschiedene Nationalitäten in einem einzigen Staat einzubinden." (626) Das galt auch für den Deutschen Bund, in dessen Fall sich die "Nationalität" "nicht vornehmlich sprachlich oder ethnisch" definierte, "sondern von der Staatsverfassung her." Daher waren "Deutsche - und andere - Nationalitäten [...] Teil des Staates, aber nicht dessen exklusives Wesensmerkmal - sie waren Akzidenz, nicht Essenz." (637) Denn "er lehnte die Nationalität des Staates ab", förderte aber vice versa "die Nationalität im Staat, wie sie der Deutsche Bund gewährleistete" (867).

Hat Siemann das eingelöst, was er sich vorgenommen hat? Indem er Facetten von Metternichs Person und Wirken auf Basis einer Vielzahl neuer Quellen ausleuchtet, bereichert seine Biografie den Fachdiskurs, für den sie bereits mit dem Erscheinen ein nicht zu übergehendes Standardwerk ist. Zugleich liefert der Band, in welchen zudem zahlreiche, in das Textgefüge passende, aussagekräftige Abbildungen eingefügt sind und der über ein gut erstelltes Personenregister verfügt, ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie das Prinzip des taciteischen "Ad fontes" neue Ergebnisse über diesen homo politicus und bon vivant zutage fördert. Dabei versucht Siemann gar nicht, Metternichs Widersprüchlichkeiten zu glätten, sondern er reflektiert über die Vielschichtigkeit von dessen Persönlichkeit und politischer Identität: den Europäer, den österreichischen Staatsmann, der sich der Sprengkraft des Nationalismus für Europa und den österreichischen Vielvölkerstaat bewusst war und der mit Prinzipientreue sowie mit Finesse für seine Überzeugungen - an vorderster Stelle stand ein befriedetes Europa - kämpfte. Unzählige Metternich-Zitate belegen das und verleihen der Biografie Authentizität. Mehr als einmal entsteht der Eindruck, als hätte sich Siemann ob des intensiven Quellenstudiums in die Metternichsche Sichtweise quasi hineingelebt und wäre er dessen Alter ego geworden. Das mindert aber in keiner Weise die Qualität des Opus. Keine Frage: Diese Darstellung kann sich innerhalb der Historikerzunft einer lebhaften Resonanz sicher sein.


Anmerkungen:

[1] Viktor Bibl: Metternich. Der Dämon Österreichs, Leipzig / Wien 1936.

[2] Constantin de Grunwald: La Vie de Metternich, Paris 1938.

[3] Algernon Cecil: Metternich, 1773-1859: A study of his period and personality, London 1933.

[4] Alan Warwick Palmer: Metternich: der Staatsmann Europas, eine Biographie, Düsseldorf 1977 (englischsprachige Erstauflage unter dem Titel: Metternich, New York 1972).

[5] Paul W. Schroeder: Metternich's diplomacy at its zenith, 1820-1823, Austin 1962.

[6] Henry Kissinger: Großmacht Diplomatie: von der Staatskunst Castlereaghs und Metternichs, Düsseldorf / Wien 1962 (englischsprachige Erstauflage unter dem Titel: A World restored: Metternich, Castlereagh and the problems of peace 1812-22, Cambridge 1957).

[7] Miroslav Šedivý: Metternich, the Great Powers and the Eastern Question, Pilsen 2013; vgl. hierzu die Rezension von Wolfram Siemann, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 6 [15.06.2014], URL: http://www.sehepunkte.de/2014/06/23608.html.

[8] Helmut Rumpler: Eine Chance für Mitteleuropa: bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie (= Österreichische Geschichte 1804-1914; Bd. 8), Wien 1997.

[9] Heinrich von Srbik: Metternich. Der Staatsmann und der Mensch, 2 Bde., München 1925.

[10] Genannt seien hier nur: Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 zwischen demokratischem Liberalismus und konservativer Reform, Frankfurt am Main / Bern 1976; Die deutsche Revolution von 1848/49, Frankfurt am Main 1985; 1848/49 in Deutschland und Europa. Ereignis - Bewältigung - Erinnerung, Paderborn 2006; vgl. hierzu die Rezension von Frank Engehausen, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 1 [15.01.2007], URL: http://www.sehepunkte.de/2007/01/11293.html; Metternichs Britain, London 2011.

[11] Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne, 2. Aufl. München 2013; vgl. hierzu die Rezension von Helmut Rumpler, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 6 [15.06.2010], URL: http://www.sehepunkte.de/2010/06/17590.html.

Werner Drobesch