Rezension über:

Georg Hoffmann: Fliegerlynchjustiz. Gewalt gegen abgeschossene alliierte Flugzeugbesatzungen 1943-1945 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 88), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 428 S., 39 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78137-6, EUR 39,90
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Rezension von:
Susanne Meinl
Lollar
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Susanne Meinl: Rezension von: Georg Hoffmann: Fliegerlynchjustiz. Gewalt gegen abgeschossene alliierte Flugzeugbesatzungen 1943-1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/28120.html


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Georg Hoffmann: Fliegerlynchjustiz

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Am 20. August 1944 wurden 167 alliierte Flieger in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert. Der Transport der Kriegsgefangenen vom Pariser Gefängnis Fresnes nach Weimar war eine bewusste Verletzung des Genfer Abkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen aus dem Jahr 1929. Mit dessen Ratifizierung hatte sich auch das Deutsche Reich verpflichtet, Kriegsgefangene aus den Unterzeichnerstaaten nicht zu töten oder zu quälen, sondern menschenwürdig zu behandeln. Die alliierten Flieger in Buchenwald entgingen nur durch einen glücklichen Zufall der Ermordung. Der für sie eigentlich verfügten "Sonderbehandlung" sollten laut Überlegungen der NS-Führungsspitze seit der alliierten Invasion im Sommer 1944 alle alliierten Flieger unterzogen werden, die sich an Angriffen auf die Zivilbevölkerung oder auf nicht-militärische Ziele beteiligt hatten. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits Hunderte, wenn nicht Tausende Angehörige der alliierten Luftstreitkräfte nach ihrer Notlandung auf deutschem Hoheitsgebiet erschossen, erschlagen oder bei ihrer Gefangennahme misshandelt worden. In Österreich wurden nachweislich mindestens 70 US-Flieger ermordet; 104 Amerikaner und neun Briten gelten bis heute als vermisst - die genaue Zahl der Todesopfer ist auch deshalb bis heute ungeklärt. [1]

Die Tötungsdelikte und Übergriffe wurden zwischen Sommer 1945 und 1948 vor alliierten Militärgerichten (u.a. in Dachau, Ludwigsburg, Darmstadt, Burgsteinfurt) verhandelt. [2] Die Spruchkammern und in geringerem Ausmaß die Justiz taten sich später schwer, die Kriegsverbrechen als solche einzuordnen und eine gerechte Strafe für die Tatbeteiligten zu finden, wirkte doch die Goebbels-Propaganda einer vorgeblich moralisch gerechtfertigten Rache der deutschen Bevölkerung für die im Feuersturm vernichteten Städte und umgekommenen Familienmitglieder nach.

Die Lynchmorde als affektgeladene Reaktion der von den Bombenangriffen direkt betroffenen Zivilbevölkerung ist einer der vielen Mythen, mit denen Georg Hoffmanns quellengesättigte Studie aufräumt. Obwohl der empirische Schwerpunkt auf Österreich und Ungarn liegt, weist die Rekonstruktion der politischen und militärischen Genese dieses besonderen Gewaltphänomens des Zweiten Weltkrieges weit darüber hinaus. Der Autor, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz, schildert umfassend die Entscheidungsprozesse an der Spitze von Partei und Wehrmacht, die Rolle von Adolf Hitler, Martin Bormann, Joseph Goebbels, Hermann Göring, Heinrich Himmler, Ernst Kaltenbrunner und Wilhelm Keitel, die Verstrickung des Auswärtigen Amtes, die Einbindung in die "Vergeltungspropaganda" und die Stufen der Radikalisierung vom Sommer 1943 bis zum Kriegsende. Standen die ersten Tötungen von Angehörigen alliierter Bomberbesatzungen im Juli 1943 noch im Zusammenhang mit der "Operation Gomorrha", der Zerstörung Hamburgs durch die Royal Air Force und die 8. US Luftflotte, begannen die Übergriffe wellenartig und als Massenphänomen erst nach einer intensiven Propagandakampagne. Insbesondere den Angehörigen der US Army Air Force wurde durch die Diffamierung als bezahlte Auftragsmörder und Kriminelle der Status der geschützten Kriegsgefangenen bereits vorab entzogen.

Hoffmann verdeutlicht in 26 Fallstudien aus Österreich und Ungarn überzeugend den Weg von der verbalen Hetze gegen "Luftgangster" und "Terrorflieger" über die Schaffung einer militärischen und juristischen Grauzone mit den Vorgaben für die jeweiligen Inszenierungen des "spontanen Volkszornes" durch die regionalen Partei-Organisationen bis hin zur konkreten Tat.

In beiden Ländern setzten die Attacken auf alliierte Flieger im Gegensatz zum "Altreich" erst mit dem Jahr 1944 ein, da die "Ostmark" und das besetzte Ungarn erst dann in Reichweite alliierter Bomber lagen. Die Einzelstudien belegen eindrücklich, wer in der kritischen Phase zwischen Notlandung und Übergabe an die zuständigen Behörden der Fliegerlynchjustiz Täter bzw. Täterin war: Das Spektrum reichte von Bürgermeistern, lokalen NS-Funktionären und Angehörigen des Volkssturms, Gestapo, SS und SA bis hin zu den Zivilisten, übrigens beider Geschlechter. Gerade Frauen taten sich beim Aufstacheln und der Aufforderung zum Lynchen besonders hervor.

Beliebt war auch die Inszenierung des "spontanen Volkszornes": So wurden alliierte Flieger durch zerstörte Städte und Ortschaften getrieben, wie beispielsweise am 25. Mai 1944 durch Wien. Die Flieger wurden bespuckt und bedroht, aber noch nicht misshandelt. Das geschah immer häufiger nach der indirekten Anordnung des Lynchmords durch Martin Bormann und Joseph Goebbels Ende Mai, beispielsweise in Salzburg und Amstetten. Im Gegensatz zum "Altreich" kam es in Ungarn schon seit März 1944 häufiger zu Übergriffen durch die Zivilbevölkerung bis hin zum Mord, wobei nicht selten ein "German Officer" (so der Eindruck eines überlebenden US-Fliegers) anleitend im Hintergrund stand. Für die Mehrzahl der Fälle in Österreich gilt jedoch, dass Tötungen und Liquidierungen mehr oder minder zielgerichtet durch Funktionäre der NSDAP oder Angehörige anderer NS-Gliederungen durchgeführt wurden. Die Befehlskette war dabei je nach Gau und Zeit unterschiedlich. Ein besonders trübes Kapitel ist die Mitwirkung von deutschen Soldaten, die durch ihre Beteiligung an einem Fliegermord ihre in Gefangenschaft geratenen Kameraden gefährdeten.

Abschließend versucht der Autor, Tatabläufe, involvierte Personengruppen und Motivlagen der Täter strukturierend zu erfassen und eine Erklärung für die unterschiedlichen und schwierigen Befunde - Mord und Misshandlung hier, korrektes Verhalten, Hilfeleistungen und individuelle Rettungsaktionen dort - zu liefern; ein schwieriges Unterfangen, da sich kein eindeutiges Erklärungsraster ergibt. Der noch lückenhafte Befund verweist darauf, dass weitere Forschungsprojekte notwendig sind, insbesondere zum "Altreich", aber auch zu den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten. Insofern bietet Georg Hoffmanns beeindruckendes Buch zu Österreich und Ungarn mehr als die Einordnung der Fliegermorde in die Geschichte des Bombenkrieges und der Endphasenverbrechen: Es animiert auch dazu, die zumeist isoliert und in lokalen Kontexten Forschenden zu einem überregionalen Austausch- und Diskussionsprozess zusammenzuführen. Hoffmanns Buch hat für dieses internationale, vergangenheitspolitisch notwendige Projekt eine maßgebliche Grundlage gelegt.


Anmerkungen:

[1] Nicole-Melanie Goll / Georg Hoffmann: Missing in Action - Failed to Return. Die Todesopfer der amerikanischen und britischen Air Forces im Luftkrieg über dem heutigen Österreich (1939-1945). Ein Gedenkbuch. Amtliche Publikation der Republik Österreich/Bundesminister für Landesverteidigung und Sport, Wien 2016, 10.

[2] Das Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse an der Philipps-Universität Marburg hat die Reviews der Dachauer Verfahren auf seine Homepage gestellt: https://www.uni-marburg.de/icwc/forschung/2weltkrieg/usadachau

Susanne Meinl