Rezension über:

David Silberklang: Gates of Tears. The Holocaust in the Lublin District, Jerusalem: Yad Vashem 2013, 497 S., einige Abb., ISBN 978-965-308-464-3, USD 58,00
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Rezension von:
Andrea Löw
Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Andrea Löw: Rezension von: David Silberklang: Gates of Tears. The Holocaust in the Lublin District, Jerusalem: Yad Vashem 2013, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 5 [15.05.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/05/27311.html


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David Silberklang: Gates of Tears

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Fast zwei Millionen Juden ermordeten die Nationalsozialisten innerhalb von neuneinhalb Monaten im Distrikt Lublin. Der Distrikt und der hier wirkende SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik spielen eine zentrale Rolle in der Geschichte des Holocaust. Er war das Zentrum jüdischer Zwangsarbeit und des Massenmords. Hierher deportierten die Nationalsozialisten Juden aus anderen Teilen des deutschen Machtbereichs, um sie später in den Lagern der "Aktion Reinhardt" - die von Lublin aus koordiniert wurde - zu ermorden.

Trotz dieser großen Bedeutung liegen bis auf Dieter Pohls frühe Arbeit über den Judenmord im Distrikt Lublin und der Studie von Bogdan Musial über die Rolle der Zivilverwaltung kaum umfassende Untersuchungen zu diesem Distrikt vor, es existieren eher Forschungen über Teilaspekte, einzelne Tätergruppen oder die Lager der "Aktion Reinhardt". [1] David Silberklang, Senior Historian am International Institute for Holocaust Research in Yad Vashem und Herausgeber der Yad Vashem Studies hat eine Untersuchung über den Holocaust im Distrikt Lublin vorgelegt, die man schon jetzt als Standardwerk bezeichnen kann.

Der Autor stellt zunächst die Struktur des Distrikts und die hier wirkenden deutschen Protagonisten und ihre Zuständigkeiten vor, um dann chronologisch die Phasen der Verfolgung und Ermordung zu schildern. Kernstücke der NS-Politik und der jüdischen Erfahrung im Distrikt Lublin waren, so Silberklang, Zwangsmigration und Zwangsarbeit, und dies von Anfang an. Auf Erfahrungen, die hier gesammelt wurden, etwa bei Razzien, konnte in den späteren Jahren zurückgegriffen werden. Eine geringere Rolle spielte in diesem Distrikt zunächst die Gettoisierung, da die lokale Zivilverwaltung kein Interesse an der Errichtung von Gettos in ihren Orten hatte. Und so betont der Autor zu Recht, dass die bekannten Beispiele der großen Gettos von Litzmannstadt und Warschau keineswegs die Lebensbedingungen aller polnischen Juden unter deutscher Herrschaft repräsentieren.

Das Leben der jüdischen Bevölkerung im Distrikt Lublin beschreibt der Autor ausführlich, die Auswirkungen der antijüdischen deutschen Politik und die daraus resultierenden Bedingungen sind ein zentrales Thema der Untersuchung. Lange Zeit waren diese Bedingungen trotz der Verfolgung besser als in anderen Teilen des Generalgouvernements, da die Juden nicht in Gettos zusammengepfercht waren. Allerdings existierte hier kein kulturelles und religiöses Leben wie andernorts; in dieser Hinsicht, "in terms of the Jewish spirit" (219), waren die Bedingungen schlechter als vor allem in Warschau.

Das Buch besticht u.a. durch die Umsicht, mit der Silberklang die bisherige Forschung diskutiert. Er verwirft andere Meinung nicht einfach, sondern wägt ab und kommt nachvollziehbar zu seinen gut belegten Interpretationen. Immer wieder fragt er, wie wir die vorhandenen Quellen interpretieren können, mit welchen Quellen wir auf welche Art und Weise verstehen können, wie Juden unter deutscher Besatzung gelebt haben und wie die deutsche antijüdische Politik zustande kam. So schildert er auch detailliert die Ingangsetzung der "Aktion Reinhardt" von Lublin aus, die Geschichte der Vernichtungsstätten im Distrikt und den brutalen Beginn der Deportationen in die Vernichtung in Lublin selbst. Parallel zu diesem beispiellosen Massenmord an den Juden des Distrikts deportierten die Nationalsozialisten im Laufe des Jahres 1942 immer wieder Juden aus dem Reich, aus Böhmen und Mähren, aus der Slowakei hierher, die nach kurzem Aufenthalt in sogenannten Durchgangsgettos ebenfalls in den Vernichtungszentren der "Aktion Reinhard" ermordet wurden.

Ende 1942 waren ca. neunzig Prozent der polnischen Juden tot. Die verbliebenen waren entweder in Zwangsarbeitslagern, im Versteck oder als Partisanen in den Wäldern. Selbst nach den Massenerschießungen im Rahmen der "Aktion Erntefest" im November 1943 lebten noch mehr als 10.000 Juden in zehn Lagern im Distrikt. Es waren nicht nur die Bedingungen in den Lagern, die die Überlebenschancen bestimmten, sondern die jeweiligen deutschen ökonomischen und persönlichen Interessen. Doch war die Vernichtung am Ende fast vollständig.

Großen Raum nimmt die Schilderung der jüdischen Reaktionen auf die Deportationen und die damit einhergehende Gewalt ein: Silberklang zeigt anhand von Selbstzeugnissen die Verwirrung und Unsicherheit der Verfolgten auf, analysiert ihren Kenntnisstand und ihre Strategien. Rettung in großem Umfang war nicht möglich. Juden waren keineswegs passiv, aber sie waren machtlos. Viele reagierten früh, versuchten sich etwa zu verstecken; doch egal, ob im Versteck oder im Arbeitslager: Die wenigsten überlebten. Sie waren auf sich gestellt, ohne Unterstützung. [2] Silberklang stellt sehr zutreffend fest (und führt die immer wieder geäußerte Anklage, die Juden seien passiv in die Vernichtung gegangen, ad absurdum): "The Germans created a confusing and consistently unpredictable frame of reference, which in essence meant that the Jews had no frame of reference at all. The Germans held all the power; the Jews none. And despite this impossible situation, Jews in the Lublin District constantly and consistently tried to make sense of their situation and to create the means and circumstances that would help them survive. Many of them displayed great initiative, but when we draw the bottom line, it was the Germans who controlled the situation and therefore the Jews' fate" (447).

Silberklang stützt sich auf eine immense Quellenbasis und umfassende Literaturkenntnis. Die Studie ist sinnvoll aufgebaut, flüssig geschrieben und bietet einen unermesslichen Wissensfundus. Es ist zu hoffen, dass diese wichtige Studie auch ins Deutsche übersetzt wird.


Anmerkungen:

[1] Dieter Pohl: Von der "Judenpolitik" zum Judenmord". Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements 1939-1944, Frankfurt am Main 1993; Bogdan Musial: Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement: Ein Fallstudie zum Distrikt Lublin, Wiesbaden 1999. Vgl. auch den vom selben Autor herausgegebenen Sammelband "Aktion Reinhardt". Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941-1944, Osnabrück 2004. Zu den Lagern siehe etwa Yitzhak Arad: Belzec, Sobibor, Treblinka. The Operation Reinhard Death Camps, Bloomington / Indianapolis 1999; Robert Kuwałek: Das Vernichtungslager Bełżec, Berlin 2013.

[2] Das Verhalten der polnischen nicht-jüdischen Bevölkerung kommt in Silberklangs Studie nur knapp vor, aber immer mit dem Tenor, dass von dieser Seite kaum Hilfe zu erwarten war. Siehe hierzu zuletzt Jan Grabowski: Hunt for the Jews. Betrayal and Murder in German-Occupied Poland, Bloomington / Indianapolis 2013.

Andrea Löw