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Sven Keller: Neuerscheinungen zum 70. Jahrestag des Kriegsendes 1945. Einführung, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 4 [15.04.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
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Neuerscheinungen zum 70. Jahrestag des Kriegsendes 1945

Einführung

Von Sven Keller

Gedenktage sind Treibmittel der Erinnerungskonjunktur. Die siebzigste Jahrestag des Kriegsendes 1945 in Europa ist dabei keine Ausnahme, auch wenn diesmal das Centennium des Ersten Weltkriegs lange Schatten wirft. Längst ist der Wandel der Erinnerung, der sich immer wieder an den Jubiläen kristallisierte, selbst Thema der Wissenschaft. Die Debatten, ob es sich 1945 um Niederlage oder Befreiung gehandelt habe, scheinen sich erledigt zu haben - zumindest, was diese Begrifflichkeiten angeht. Anders gewendet lebt die Diskussion um die Erlebnisambivalenz des Kriegsendes indes fort: Zuletzt wurde im Erinnerungsdiskurs mit einigem Nachdruck, gelegentlich auch mit Vehemenz hervorgehoben, dass die Deutschen im Krieg und insbesondere bei Kriegsende nicht nur Täter, sondern auch Opfer gewesen seien. Dass unter den hier anzuzeigenden Titeln zwei sind, die sich explizit der deutschen Opferperspektive annehmen, ist also kein Zufall: Miriam Gebhardt beleuchtet in ihrem Band "Als die Soldaten kamen" die sexuelle Gewalt, der deutsche Frauen bei Kriegsende und während der Besatzungszeit ausgesetzt waren, und Florian Huber widmet sich den Massensuiziden Tausender Deutscher bei Kriegsende.

Bemerkenswert ist, dass die Jubiläen in den vergangenen Jahrzehnten von der Fachwissenschaft kaum zum Anlass genommen wurden, neue Forschungen zum Kriegsende vorzulegen. Überhaupt blieb die Endphase des NS-Regimes lange Zeit ein blinder Fleck der Zeitgeschichte - die monumentale Pionierstudie von Klaus-Dietmar Henke zur amerikanischen Besetzung Deutschlands blieb lange solitär. [1] Während der letzten Dekade war dagegen eine neue Forschungsdynamik zu beobachten: Auch sie vollzog sich weitgehend losgelöst von der starren Rhythmik der Jubiläen [2], und sie bezog sich vor allem auf die Kriegsendphase, nicht die Zeit nach der Kapitulation. Gegenstand dieses Rezensionsforums sind denn auch Titel, die die letzten Monate des NS-Regimes in den Blick nehmen.

Mit Ausnahme von Gebhardts Studie und dem Band von Ralf Blank über "Die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs im Ruhrgebiet" erheben die hier zusammengefassten Titel nicht den Anspruch, das akademische Wissen um das Kriegsende zu erweitern, und selbst diese beiden wenden sich gleichzeitig an ein breiteres Lesepublikum. [3] Überhaupt scheint der Jahrestag 2015 vor allem geprägt von dem Bemühen, das Jubiläum als Katalysator zu nutzen, um das Interesse einer möglichst breiten Leserschaft zu wecken. Zum 70. Jahrestag des Kriegsendes steht klar nicht (mehr) die Debatte und die Aushandlung gesellschaftlicher Positionen im Vordergrund, sondern die Bemühung um die Vermittlung historischen Wissens - ein Zeichen dafür, dass das Ende des Zweiten Weltkriegs nun tatsächlich vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis überwechselt.

Aufmerksamkeitsökonomische und betriebswirtschaftliche Logiken sind bei der jubiläumsinduzierten Mobilisierung des Lesepublikums nicht immer klar zu trennen. Tendenziell letzteres wird man bei der erweiterten Neufassung von Sven Felix Kellerhoffs Buch über den "Führerbunker" vermuten dürfen, ebenso bei der Neuauflage von Cornelius Ryans "Der letzte Kampf". Durch eine Einleitung ergänzt, schärft sie den Blick dafür, dass Ryans Collagetechnik, die aus Zeitzeugenberichten schöpft, momentan eine Renaissance erlebt: Auch die Bände von Hoffmann und Huber nutzen vergleichbare Techniken.

Auch die Ausstellungsmacher in Museen und Gedenkstätten orientieren sich gerne an Jubiläen und hoffen auf ein damit potenziell erhöhtes Besucherinteresse: In Berlin zeigte das Deutsche Historische Museum 2015 ebenso eine Ausstellung zum Thema "1945" wie die Stiftung Topographie des Terrors (kuratiert von Claudia Steur), zu beiden gibt es einen Ausstellungskatalog. [4]

Besonders erfreulich ist es, wenn sich Historiker und Gedenkstättenmitarbeiter im Zuge der Public History zunehmend darum bemühen, ihre Themen auch auf unkonventionellen Wegen zu vermitteln. Wobei unkonventionell angesichts der Nutzer- und Zugriffszahlen von social media-Plattformen wie Twitter und Blogs nicht mehr ganz richtig ist: Nur hat die Entdeckung der "neuen" Medien durch die Experten für Vergangenes noch immer viel Experimentelles. Umso erfreulicher, dass aus Anlass des Kriegsendes zwei durchaus gelungene Versuche zu verzeichnen sind: Moritz Hoffmanns Twitter-Chronik "Als der Krieg nach Hause kam", hier besprochen aus Anlass des zugehörigen Begleitbandes, und das von Jens-Christian Wagner für die Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten verantwortete Blog-Projekt "Gewalt, Mord und Befreiung", dessen täglichen Beiträge nun auch in Buchform nachzulesen sind.


Anmerkungen
:
[1] Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995.
[2] Jörg Hillmann / John Zimmermann (Hgg.): Kriegsende 1945 in Deutschland, München 2002; Andreas Kunz: Wehrmacht und Niederlage. Die bewaffnete Macht in der Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft 1944 bis 1945, München 2005 (http://www.sehepunkte.de/2006/07/8018.html); John Zimmermann: Pflicht zum Untergang. Die deutsche Kriegsführung im Westen des Reiches 1944/45, Paderborn 2009; Sven Keller: Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/45, München 2013. Darüber hinaus haben angelsächsische Historiker lesenswerte Überblicksstudien vorgelegt: Richard Bessel: 1945. From War to Peace, New York 2009; Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang - NS-Deutschland 1944/45, München 2011 (http://www.sehepunkte.de/2013/07/21488.html).
[3] Auf Stefan Hördlers im Oktober 2015 erschienene Studie zu den letzten Monaten des Konzentrationslagersystems sei hier nur verwiesen; sie ist anderweitig zur Rezension bei den sehepunkten vergeben: Stefan Hördler: Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Göttingen 2015.
[4] Auf ersteren wird hier nur verwiesen, weil die Ausstellung vor allem die Nachkriegszeit in den Blick nimmt: Deutsches Historisches Museum (Hg.): 1945. Niederlage, Befreiung, Neuanfang. Zwölf Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin 2015.


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