Lena Bader: Bild-Prozesse im 19. Jahrhundert. Der Holbein-Streit und die Ursprünge der Kunstgeschichte (= eikones), München: Wilhelm Fink 2013, 611 S., 163 Abb., ISBN 978-3-7705-5357-0, EUR 59,00
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In ihrer Publikation, einer gekürzten Fassung ihrer 2010 bei Horst Bredekamp und Andreas Beyer abgeschlossenen Dissertation, widmet sich Lena Bader einer bedeutenden kennerschaftlichen Kontroverse des 19. Jahrhunderts, dem sogenannten Holbein-Streit. Die über Jahrzehnte geführte Zuschreibungsdebatte um zwei Exemplare der Madonna des Bürgermeisters Jakob Meyer zum Hasen von Hans Holbein d.J., der vermeintlich originalen Version in der Dresdner Gemäldegalerie, und dem im 19. Jahrhundert entdeckten, lange in Darmstadt und nun in der Sammlung Würth verwahrten Original, strahlte weit in die Öffentlichkeit hinaus und versammelte unterschiedlichste Akteure und Positionen. Als Methodenstreit, der zeitlich mit der Formierung des Faches Kunstgeschichte zusammenfiel, erlangte er zugleich eine nahezu paradigmatische Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte des Faches.
Ausgehend von der für ihre Arbeit grundlegenden Bestimmung der Debatte als "Bilder-Streit" (28) im eigentlichen Sinne, legt Bader den Fokus auf das umfangreiche Bildmaterial, das die Kontroverse begleitete. Neben dem Darmstädter Original und der Dresdner Kopie wird der Blick auf die zahlreichen Reproduktionen der beiden Werke und ihre Verwendung innerhalb der Debatte gerichtet. Damit hebt sich die Autorin deutlich von bisherigen Arbeiten zum Thema ab, die den Konflikt anhand fest gefügter Streitpole wie Kunsthistoriker gegen Künstler oder Original gegen Kopie behandeln oder seinen nationalpolitischen Kontext hervorheben. [1] Mit der Konzentration auf die Bilder nimmt sie zudem die bislang weniger beachteten, aber bildträchtigen Phasen des Streits nach dem Holbein-Kongress 1871 und der Restaurierung der Darmstädter Fassung 1887 stärker in den Blick. Der Arbeit liegt eine intensive Quellenrecherche zugrunde, bei der neben zeitgenössischen Fachmagazinen erstmals auch nicht-kunsthistorische Zeitschriften systematisch mit Blick auf den Holbein-Streit ausgewertet werden. Gleichzeitig schlägt sich der Umfang der herangezogenen Quellen allerdings in einer auffällig hohen Zahl an wörtlichen Zitaten nieder, die die gesamte Arbeit durchziehen. Am Beispiel des Holbein-Streits kann Bader schließlich charakteristische Praktiken des 19. Jahrhunderts im Umgang mit Bildern und ihrer Bewertung deutlich machen. Wie die Debatte damals, so thematisiert auch die Autorin dabei methodologische Fragen des Faches Kunstgeschichte und seiner Positionierung, wie sie sich heute vor dem Hintergrund des pictorial bzw. iconic turn stellen.
Die Arbeit gliedert sich in vier stringent im Dreischritt unterteilte Hauptkapitel. Das erste Kapitel, das als erweiterte Einführung gesehen werden kann, zeigt die wesentlichen Etappen des Holbein-Streits auf: die Bewertung des Dresdner Gemäldes im prägenden Vergleich mit Raffaels Sixtinischer Madonna, das "Auftreten" der Darmstädter Madonna, die ersten visuell untermauerten Stellungnahmen zum Verhältnis beider Werke, schließlich die Ausstellungen in München und Dresden sowie den Kongress von 1871. Mit Blick auf die Fachgeschichte wirft Bader die Frage nach der Bedeutung bildkritischer Ansätze für die Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert auf und spricht sich - den Ansichten Bredekamps und Beyers folgend - gegen eine Kunst und Bild trennende Sichtweise aus (68).
Gegenstand des zweiten Kapitels ist das Verfahren des vergleichenden Sehens, dem als Erkenntnisquelle und Motor eine zentrale Rolle im Holbein-Streit zukam. So hätten sich erst aus dem Bildvergleich heraus etwa wichtige Detailfragen wie die nach dem Gesichtsausdruck des Christuskindes ergeben (207-231). Zudem biete gerade der Holbein-Streit eine Fülle an Vergleichsmaterial, zu der auch die verschiedenen Erscheinungszustände der beiden Werke, etwa vor und nach der Restaurierung der Darmstädter Version, beitrügen. Anhand exemplarischer Text-Bild-Beiträge zur Debatte untersucht Bader, wie bestimmte Reproduktionen eingesetzt wurden und mit dem jeweiligen Text interagierten. Dabei werden immer wieder auch Beispiele einbezogen, die - wie etwa Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe - lediglich in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem Holbein-Streit stehen, ihn selbst jedoch nicht thematisieren. Aus der Analyse der herangezogenen Publikationen geht schließlich hervor, wie stark bestimmte Bilder fortwirkten. So wird der jüngst noch von Bernhard Maaz angesprochene Erfolg der Dresdner Madonna deutlich [2], die auch nach ihrer Identifizierung als Kopie weiterhin abgebildet wurde (194).
Der dritte Teil gilt den Wechselbeziehungen zwischen Original, Kopie und Reproduktionen, die den Streit besonders in der Zeit nach 1871 bestimmen. Mit Blick auf zeitgleiche und spätere Debatten über Bedeutung und Grenzen der Reproduktion sowie auf zeitgenössische Kopierpraktiken zeigt Bader, dass bereits im 19. Jahrhundert und weit vor den Schriften Walter Benjamins eine kritische, weniger medien- als vielmehr bildtheoretisch motivierte Reflexion über den Stellenwert von Reproduktionen stattfand (354f.). Zudem kann die Autorin auf der Grundlage bislang unberücksichtigter Quellen den Zeitpunkt, zu dem die Darmstädter Madonna erstmals in Berlin zu sehen war, überzeugend auf das Jahr 1821 vordatieren (305f.).
Im abschließenden vierten Kapitel liegt der Fokus auf den vervielfältigenden Künsten, ihrem Einsatz in der Wissenschaft und ihrer Beurteilung durch die damalige Kunstgeschichte. Dabei wird deutlich, dass sich die Kunstgeschichte früh dem Bild widmete und als "historische[r] Bildwissenschaft" (468) ein ausgeprägtes methodisch gestütztes Interesse am Bild, sei es als originalem Kunstwerk, Kopie oder Reproduktion, entwickelte. Es überrascht, dass erst in diesem Kapitel (370ff.) und verhältnismäßig knapp die starke visuelle Ausrichtung des 19. Jahrhunderts [3] explizit zur Sprache kommt und nicht etwa bereits im Zusammenhang mit dem vergleichenden Sehen im zweiten Kapitel.
Die von Lena Bader vorgelegte Arbeit erweist sich als gewichtiger Beitrag nicht nur zur Rekonstruktion des Holbein-Streits - so können durch die geleistete Quellenarbeit etwa wichtige Eckdaten neu bestimmt werden -, sondern auch zur Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte und dem Verhältnis des Faches zum Bild in seinen verschiedenen Formen und Funktionen. Dass die Kunstgeschichte als historische Bildwissenschaft begriffen wird, ist nicht neu. Nichtsdestoweniger gelingt es Bader mit ihrer Arbeit, dies anhand eines markanten und für die Fachgeschichte relevanten Beispiels zu verdeutlichen. Der Holbein-Streit erfährt auf diese Weise eine anregende Neubewertung.
Anmerkungen:
[1] So etwa Oskar Bätschmann / Pascal Griener: Hans Holbein d.J. Die Darmstädter Madonna. Original und Fälschung (= Fischer Taschenbücher: Kunststück; Bd. 13401), Frankfurt am Main 1998, bes. 15-18 u. 64f.
[2] Bernhard Maaz: Hans Holbein d.J. Die Madonnen des Bürgermeisters Jacob Meyer zum Hasen in Dresden und Darmstadt: Wahrnehmung, Wahrheitsfindung und -verunklärung, Schwäbisch Hall / Künzelsau 2014, 54.
[3] Hierzu u.a. Marie-Louise von Plessen (Hg.): Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Ausst.-Kat. Bonn, Basel / Frankfurt am Main 1993.
Friederike Voßkamp