Rezension über:

Stephan Braese / Dominik Groß (Hgg.): NS-Medizin und Öffentlichkeit. Formen der Aufarbeitung nach 1945, Frankfurt/M.: Campus 2015, 343 S., ISBN 978-3-593-50488-9, EUR 39,90
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Rezension von:
Henning Tümmers
Eberhard Karls Universität, Tübingen
Empfohlene Zitierweise:
Henning Tümmers: Rezension von: Stephan Braese / Dominik Groß (Hgg.): NS-Medizin und Öffentlichkeit. Formen der Aufarbeitung nach 1945, Frankfurt/M.: Campus 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 2 [15.02.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/02/27930.html


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Stephan Braese / Dominik Groß (Hgg.): NS-Medizin und Öffentlichkeit

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Was der hier besprochene, auf eine Tagung an der Universität Aachen 2013 zurückgehende Sammelband nach Ansicht der Herausgeber Stephan Braese und Dominik Groß leisten soll, lässt aufhorchen: "Der vorliegende Band schreitet erstmals das gesamte Panorama der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ab" (9). Tatsächlich offenbart aber bereits das Inhaltsverzeichnis, dass der thematische Zugriff enger ist als der Literaturwissenschaftler und der Medizinhistoriker konstatieren. Denn im Fokus steht der Umgang zweier Akteursgruppen mit der NS-Medizin nach 1945: zum einen Ärzte selbst beziehungsweise ihre Zusammenschlüsse, zum anderen renommierte Schriftsteller.

Den Ausgangspunkt des Bands bildet die (wenig neue) Feststellung einer langen "Tabuisierung des Verhältnisses zwischen Medizin und Nationalsozialismus" (7), die erst in den 1980er Jahren aufgebrochen worden sei. Laut Braese und Groß ist dieser Entwicklungsprozess jedoch nicht allein durch das Handeln der Ärzteschaft zustande gekommen. "Die konstitutive Rolle gesellschaftlicher Öffentlichkeit" sei zentral gewesen, wobei gerade die Literatur "sowohl auf die kollektiven Vorstellungen über historische Sachverhalte als auch auf das öffentliche Diskursverhalten" eingewirkt habe (9). Dementsprechend hätten etwa die Werke von Alexander Kluge nachhaltig das Bild des "NS-Arztes" in Westdeutschland geprägt.

Die ersten fünf, von Medizinern, Medizinhistorikern und Politologen verfassten Beiträge widmen sich vor allem der Auseinandersetzung der bundesdeutschen Ärzteschaft mit der NS-Medizin. Mehrheitlich werden hier leider kaum neue Erkenntnisse präsentiert: Dass 1946/47 eine Kommission, die von den Ärztekammern der drei Westzonen 1946 beauftragt und von Alexander Mitscherlich geleitet wurde, kritisch über die im "Nürnberger Ärzteprozess" geschilderten Medizinverbrechen berichtete; dass der Psychoanalytiker die Schuld an diesen Vergehen nicht nur den wenigen Angeklagten gab; dass es "belasteten" Medizinern nach 1945 relativ leicht fiel, beruflich wieder Fuß zu fassen (siehe die Beiträge von Jürgen Peter, Carola Döbber / Gereon Schäfer / Dominik Groß, Ralf Forsbach) - all dies ist hinlänglich bekannt. [1] Anders verhält es sich jedoch mit den Ausführungen Volker Roelckes, der eine Chronologie des Umgangs der Bundesärztekammer mit der NS-Medizin seit den 1980er Jahren vorlegt. Hierbei übt der Medizinhistoriker scharfe Kritik am Verhalten dieser Organisation, an deren Mitgliedern und Fachkollegen. Laut Roelcke können beispielsweise die von ihr subventionierten Studien zur Medizin im "Dritten Reich" schwerlich als "Ergebnis der Arbeit eines unabhängigen Historikerteams" (149) bezeichnet werden. Diese Generalanklage ist jedoch nicht nachvollziehbar, wenn man sich vergegenwärtigt, wer beispielsweise an der jüngsten Veröffentlichung "Medizin und Nationalsozialismus" mitgewirkt hat, die von der Bundesärztekammer initiiert und finanziert wurde. [2] Die beteiligten NS-Forscher sind jedenfalls nicht dafür bekannt, sich unkritisch mit ihren Untersuchungsgegenständen auseinanderzusetzen oder sich bei ihrer Arbeit beeinflussen zu lassen.

Die übrigen Aufsätze verfolgen eine bislang von der zeithistorischen Forschung eher vernachlässigte Perspektive. In diesem zweiten Teil analysieren Literaturwissenschaftler die Darstellung der NS-Medizin in Texten von Martin Walser, Rolf Hochhuth, Peter Weiss, Alexander Kluge, Ira Levin, Marcel Beyer, Hans-Ulrich Treichel und Ilse Aichinger.

Matthias N. Lorenz und Aurélia Kalisky zeigen, dass in Veröffentlichungen von Walser und Hochhuth (die parallel zum "Eichmann-" und "Auschwitz-Prozess" entstanden) NS-Mediziner zwar eine Rolle spielten, deren Darstellung als "Figur[en] aus dem Gruselkabinett" (180) jedoch keinen Beitrag zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit leisten konnte und wollte. Lorenz zufolge habe Walser in "Eiche und Angora" stattdessen das Bild einer "tragische[n] Verstrickung der deutschen Nation" (190) kolportiert und einer "Täter-Opfer-Nivellierung" (182) das Wort geredet. Auch in Hochhuths "Der Stellvertreter" habe die "Dialektik zwischen dokumentarischem Realismus und Fiktionalisierung, die auf eine Mythisierung der 'Doktor'-Figur" (196) hinauslief, eine dezidierte Beschäftigung mit den Medizinverbrechen verhindert. Erik Porath veranschaulicht anhand des Werks "The Boys From Brazil", dass Ira Levin eine Dekade später den Nationalsozialismus lediglich dazu nutzte, der Gesellschaft die verhängnisvollen Möglichkeiten der modernen Genetik zu demonstrieren. Josef Mengele fungiert darin als Kopf einer "Klonverschwörung" (236) ehemaliger Nationalsozialisten, die Hitler mithilfe von DNA-Partikeln auferstehen lassen wollen. Demgegenüber bedienten sich nach 1990 publizierte Werke - Beyers "Flughunde", Treichels "Der Verlorene" und Aichingers "Film und Verhängnis" - nicht nur der aktuellen historischen Forschung zur Eugenik oder Anthropologie im "Dritten Reich". Sie kommunizieren überdies "die historische Epoche des Nationalsozialismus als unabgeschlossen" (271), als eine Zeit, die "als vergangene erinnert werden" könne, die "in der Gegenwart aber wirksam" bleibe (307).

In ihrem Nachwort versucht Liliane Weissberg, die Ergebnisse der beiden Teile des Bands zusammenzuführen. Die Literaturwissenschaftlerin rekapituliert, dass bis in die späten 1970er Jahre der Umgang mit der NS-Vergangenheit durch ein "öffentlich bestärktes Schweigen" (325) gekennzeichnet war beziehungsweise die öffentliche Wahrnehmung der NS-Medizin sich auf einzelne Personen wie Josef Mengele beschränkte. Gleichzeitig seien auch in der Literatur einzelne Lagerärzte zu "Bösewichten par excellence" (330) erklärt worden. Daneben stellt Weissberg wichtige Fragen: "Welche Mittel hat die Geschichtsschreibung, welche die Literatur hinsichtlich der Aufarbeitung der Vergangenheit? [...] Kommen dem historischen oder dem literarischen Text gewisse Vorteile zu?" (335/336). Ihre Antworten, in denen sie die Vorzüge ihres eigenen Fachs herausstreicht, spiegeln allerdings ein unterkomplexes Bild von der Historiografie. So spricht Weissberg dem Historiker eine "kreative[...] Seite seines Schreibens" (336) ab und markiert den work-in-progress-Charakter als Alleinstellungsmerkmal der Literatur, der verhindere, "dass die Vergangenheit als abgeschlossen betrachtet wird" (338). Erkenntnisreicher wären stattdessen Ausführungen über die Rezeptionsgeschichte der besprochenen Werke gewesen. Eventuell hätten sie die These der Herausgeber besser stützen können, wonach gerade diese Publikationen nach 1945 eine ganz besondere vergangenheitspolitische Wirkmacht entfalten konnten.

So hinterlässt der Band einen ambivalenten Eindruck: Die präsentierten medizinhistorischen Forschungsergebnisse sind größtenteils bekannt. Interessant erweist sich jedoch der literaturwissenschaftliche Teil. Gleichwohl bleibt unklar, worin der Mehrwert dieser speziellen Zusammenstellung von Aufsätzen besteht. Aufgrund der Fokussierung auf Mediziner und Schriftsteller drängt sich überdies der falsche Eindruck auf, allein diese Gruppen hätten Kritik an einer Tabuisierung der Medizinverbrechen geübt. Ganz so einfach war es sicherlich aber nicht. Um dem hehren Anspruch der Herausgeber gerechter zu werden, müssten beispielsweise noch Publikationen von NS-Verfolgten wie Hermann Langbein hinzugezogen werden. Und auch die Bemühungen innerhalb der Sozialdemokratie zugunsten der Opfer in den 1970er Jahren hätten ebenso Beachtung verdient wie geschichtswissenschaftliche Tagungen, die sich nach 1945 um die Aufklärung der NS-Medizinverbrechen bemüht haben.


Anmerkungen:

[1] Siehe beispielsweise Tobias Freimüller: Mediziner. Operation Volkskörper, in: Norbert Frei: Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt a.M. / New York 2001, 13-69.

[2] Robert Jütte / Wolfgang U. Eckart / Hans-Walter Schmuhl / Winfried Süß: Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011.

Henning Tümmers