Rezension über:

Nadir Weber: Lokale Interessen und große Strategie. Das Fürstentum Neuchâtel und die politischen Beziehungen der Könige von Preussen (1707-1806) (= EXTERNA. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven; Bd. 7), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015, 656 S., ISBN 978-3-412-22451-6, EUR 90,00
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Rezension von:
Michael Rohrschneider
Historisches Seminar, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Michael Rohrschneider: Rezension von: Nadir Weber: Lokale Interessen und große Strategie. Das Fürstentum Neuchâtel und die politischen Beziehungen der Könige von Preussen (1707-1806), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 2 [15.02.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/02/27620.html


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Nadir Weber: Lokale Interessen und große Strategie

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Seit den 1980er-Jahren ist in der Geschichtswissenschaft ein Typus des frühneuzeitlichen politischen Gemeinwesens in den Blickpunkt gerückt, der wohl am nachhaltigsten von der spanischen Monarchie des 16. und 17. Jahrhunderts verkörpert und gemäß der Begriffsbildung von Helmut G. Koenigsberger und John H. Elliott als "composite state" bzw. "composite monarchy" bezeichnet wird. Solche Konglomerate waren, vereinfacht gesagt, dadurch geprägt, dass zwei oder mehrere Territorien unter der Herrschaft eines Monarchen standen, dessen Person das einigende Band für diese räumlich nicht selten unverbundenen Lande darstellte. Auch Brandenburg-Preußen mit seinen weit verstreuten Territorien vom Niederrhein bis nach Ostpreußen zählte zu diesen "Mehrfachherrschaften" (Franz Bosbach). Nachdem in der borussischen Geschichtsschreibung in diesem Kontext lange Zeit die Frage nach der Integration neu gewonnener Gebiete in den Hohenzollernstaat dominierte, hat die jüngere Preußenforschung inzwischen damit begonnen, sich systematisch mit diesem Strukturphänomen auseinanderzusetzen. [1] Allerdings bestehen in diesem Zusammenhang nach wie vor erhebliche Defizite, die es zukünftig noch weiter aufzuarbeiten gilt.

Eine besonders markante Lücke schließt nunmehr die hier zu besprechende Berner Dissertation von Nadir Weber. Sie widmet sich dem 1707 in den Besitz des preußischen Königs gelangten Fürstentum Neuchâtel, das von der borussischen Historiografie bislang eher stiefmütterlich behandelt worden ist. Fern der Kerngebiete der preußischen Monarchie und in einer spannungsreichen Grenzlage zu den regionalen Vormächten Frankreich und Bern situiert, offeriert das Fürstentum dem heutigen Historiker, wie der Verfasser nachdrücklich aufzuzeigen vermag, ein territoriales, politisches und wirtschaftliches Profil, dessen Erforschung in exzellenter Weise dazu geeignet ist, charakteristischen Fragestellungen zu den frühneuzeitlichen "composite monarchies" exemplarisch nachzugehen.

Ausgehend von dem als "analytische Leitkategorie" (34) verstandenen Terminus "politische Beziehung" und von vier erkenntnisleitenden Konzepten (Aushandlungsprozesse, Verflechtungsansatz, zusammengesetzte Monarchie sowie Grenzräume bzw. -gesellschaften), zeigt der Verfasser auf, wie das Fürstentum Neuchâtel als ein in herrschaftlicher Hinsicht vergleichsweise gering durchdrungenes Territorium im Jahrhundert von 1707 bis zum Epochenjahr 1806 den Spagat zwischen lokalen Interessen und den Belangen der preußischen Gesamtmonarchie zu bewältigen versuchte.

Aus Sicht der Hohenzollernherrscher war das Fürstentum in mehrfacher Hinsicht eine Investition wert: Der Besitz Neuchâtels versprach ihnen erstens politisches, soziales und nicht zuletzt auch symbolisches Kapital, von dem man sich eine substanzielle Prestigesteigerung auf internationalem Terrain versprach. Zweitens fungierte das Fürstentum als "Schlüssel zur Schweiz" (501) und trug langfristig gesehen dazu bei, die Beziehungen Preußens zu den eidgenössischen Orten zu verstetigen. Und nicht zuletzt hatte die Grenzlage Neuchâtels zu Frankreich drittens aufs Ganze gesehen eine Intensivierung der preußisch-französischen Beziehungen im Bereich der Diplomatie zur Folge.

Schon allein aufgrund der großen Entfernung zum Zentrum der preußischen Monarchie - Briefe zwischen Neuchâtel und dem fast 800 Kilometer entfernten Berlin waren zwei Wochen oder sogar länger unterwegs - war eine konsequente Politik der Berliner Zentrale gegen den Widerstand der regionalen Vormächte und lokalen Eliten des Fürstentums dauerhaft praktisch kaum durchsetzbar. In den Beziehungen zwischen den preußischen Königen und ihren fernen Untertanen dominierte daher insgesamt gesehen politische Kooperation gegenüber konfrontativem Verhalten. Die Herrschaftspraxis der Hohenzollern entsprach somit mutatis mutandis in nahezu paradigmatischer Weise der spezifischen Logik frühneuzeitlicher "composite states", deren Monarchen ihre Distanzherrschaft in der Regel vor Ort mittels gezielter Einbeziehung lokaler Akteure und Eliten ausübten.

In den Außenbeziehungen führte dies unter anderem dazu, dass die preußischen Könige diplomatische Missionen und Befugnisse an lokale Amtsträger delegierten, deren Wirken somit durch die interdependente Doppelrolle als Agenten ihres Herkunftslandes einerseits und Repräsentanten des Monarchen andererseits charakterisiert war. Für die lokale Regierung des Fürstentums eröffnete dies bisweilen zusätzliche Handlungsspielräume, denn die eigenen Interessen ließen sich gegenüber den benachbarten Mächten mitunter besonders nachhaltig vertreten, indem man sich bei Bedarf "unter das schützende Gefieder des preußischen Adlers" (590) begab. Zum Kriegsschauplatz wurde Neuchâtel im Untersuchungszeitraum jedenfalls nicht, obwohl sich gerade dort die geostrategischen Interessen der regionalen Vormächte überkreuzten.

Dies und noch vieles mehr überzeugend herausgearbeitet zu haben, ist das unbestreitbare Verdienst der vorliegenden Untersuchung, die der Erforschung der frühneuzeitlichen "composite monarchies" einen wichtigen Baustein hinzufügt. Begrifflich stets reflektiert, auf breiter archivalischer Quellengrundlage argumentierend und konzeptionell ausgereift, liefert der Verfasser Analysen, die nicht nur der Preußenforschung, sondern darüber hinaus jedem, der sich für frühneuzeitliche Außenbeziehungen interessiert, fundiertes Anschauungsmaterial bieten.

Abzuwarten bleibt, ob sich der von Weber neu eingeführte Terminus "zusammengesetzte Diplomatie" als Bezeichnung für die beschriebene Praxis, diplomatische Aufgaben auch und gerade an lokale Akteure zu delegieren, durchsetzen wird. Kritisch einwenden könnte man beispielsweise, dass diese begriffliche Neuschöpfung nicht unabhängig von dem 'staatlichen' Pendant (zusammengesetzte Monarchie bzw. "composite monarchy") funktionieren kann. Auch muss noch genauer komparatistisch untersucht werden, wie sich das Fallbeispiel Neuchâtel zu den Praktiken in den übrigen Territorien des Hohenzollernstaates verhält. Hier fehlen bislang noch weitgehend die Vergleichsmöglichkeiten.

Unabhängig davon bleibt aber zu konstatieren, dass Nadir Weber mit seiner erhellenden Dissertation eine profunde Untersuchung vorgelegt hat, die höchsten Ansprüchen gerecht wird.


Anmerkung:

[1] Vgl. insbesondere Peter Baumgart (Hg.): Expansion und Integration. Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat (= Neue Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte; Bd. 5), Köln / Wien 1984; der Ansatz der jüngeren Forschung findet sich ausgeführt in den Beiträgen des Sammelbandes Michael Kaiser / Michael Rohrschneider (Hgg.): Membra unius capitis. Studien zu Herrschaftsauffassungen und Regierungspraxis in Kurbrandenburg (1640-1688) (= Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Neue Folge; Beiheft 7), Berlin 2005.

Michael Rohrschneider