Rezension über:

Leonie Treber: Mythos Trümmerfrauen. Von der Trümmerbeseitigung in der Kriegs- und Nachkriegszeit bis zur Enstehung eines deutschen Erinnerungsortes, Essen: Klartext 2014, 483 S., ISBN 978-3-8375-1178-9, EUR 29,95
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Martina Metzger: Bewältigung, Auswirkungen und Nachwirkungen des Bombenkrieges in Berlin und London 1940-1955. Zerstörung und Wiederaufbau zweier europäischer Hauptstädte (= Historia Altera; Bd. 1), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013, 367 S., ISBN 978-3-515-10445-6, EUR 59,00
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Rezension von:
Jörg Arnold
University of Nottingham
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Arnold: Neue Forschungen zum Luftkrieg (Rezension), in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 1 [15.01.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/01/25747.html


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Neue Forschungen zum Luftkrieg

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Im Herbst 1945, wenige Monate nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, veröffentlichten die Sozialwissenschaftler des United States Strategic Bombing Survey ihren Abschlussbericht über den strategischen Luftkrieg der Westalliierten gegen das Deutsche Reich. Der Bericht ließ keinen Zweifel daran, dass der Bombenkrieg, in dessen Verlauf über 2,7 Millionen Tonnen Bomben abgeworfen worden waren, einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über das nationalsozialistische Deutschland geleistet hatte. Zugleich zeigten sich die Wissenschaftler beeindruckt von den gewaltigen Zerstörungen des Luftkriegs. In ihrem Resümee sprachen sie von den "zerbombten Städte[n] Englands" und den "zerstörten Städte[n] Deutschlands" sowie von den materiellen und psychischen Folgen der Angriffe. Der Luftkrieg habe "den Deutschen mit Nachdruck das Grauen und den Schrecken des modernen Krieges" vor Augen geführt. Seine Wirkung auf die deutsche Nation werde von bleibender Dauer sein. [1]

Die Auseinandersetzung mit dem Bombenkrieg und seinen unmittelbaren wie langfristigen Folgen ist in den letzten Jahren auf eine neue wissenschaftliche Grundlage gestellt worden. So hat Dietmar Süß in seiner 2011 erschienenen Habilitationsschrift gezeigt, wie die kriegführenden Gesellschaften Deutschlands und Großbritanniens auf die Gewalterfahrung des Luftkriegs reagiert haben und dadurch verändert wurden. Nicole Kramer hat sich in ihrer preisgekrönten Dissertation der Handlungsspielräume deutscher Frauen "unter Bomben" angenommen, während Richard Overy in seiner 2013 erschienen monumentalen Geschichte erstmals den Bombenkrieg in seiner europäischen Dimension dargestellt hat. [2] Daneben sind Arbeiten erschienen, deren Schwerpunkt auf den kulturellen Verarbeitungen des Luftkriegs im nationalen und vor allem kommunalen Gedächtnis liegt. [3] Die beiden hier zu besprechenden Studien von Leonie Treber und Martina Metzger reihen sich ein in die neuen Forschungen zum Luftkrieg, ohne redundant zu sein. Ihr Potential liegt darin, eine Brücke zu bilden zwischen den Arbeiten, die sich vor allem der Kriegszeit widmen, und denen, die sich primär für die Tradierung des Luftkriegs im "langen Nachkrieg" interessieren.

Leonie Treber gelingt es in "Mythos Trümmerfrauen" in faszinierender Weise, über die Zäsur von 1945 hinweg die Genese einer zentralen Figur im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik herauszuarbeiten und auf ihre sozialgeschichtlichen Grundlagen hin zu überprüfen. Wie nötig dieses Unterfangen ist, zeigt ein Blick auf den Bildhaushalt einschlägiger Darstellungen zur deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte. Konrad Jarauschs Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, "Out of Ashes", benutzt als Titelbild eine bekannte Aufnahme aus dem Frühjahr 1946, die in Untersicht eine Kette von Frauen zeigt, die Steine aus den Trümmern bergen.[4] Dieselbe Fotografie war bereits 1990 für die von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene und viel beachtete Sammlung von Augenzeugenberichten "Europa in Ruinen" verwendet worden. Sieht man einmal davon ab, dass in beiden Fällen eine deutsche Bildikone kurzerhand in eine europäische verwandelt wird, so macht der folgende Tagebucheintrag aus Magdeburg vom Sommer 1945 deutlich, wie groß das Spannungsfeld ist, das von Leonie Treber zu vermessen ist. Am 3. Juni 1945, einem Sonntag, notierte die Studienrätin Marianne Gutsche: "Die Männer und Frauen müssen wie alltags arbeiten: Straßen fegen, Schutt wegbringen, Panzersperren beseitigen, Steine beklopfen. Mich erschütterte es tief, als ich unsere deutschen Frauen wie Gefangene in der glühend heißen Sonne bei Ostende sitzen sah und sie Steine beklopften." [5] Die Frauen, die im Titelbild zu Jarauschs Darstellung selbstlos und heroisch den Weg Europas "aus den Trümmern" bahnen, sind in der Imagination der Tagebuchschreiberin bemitleidenswerte Strafarbeiterinnen und gleichsam Symbol für totale Ohnmacht im Angesicht der Niederlage.

Leonie Treber hat ihre Studie in drei Teile gegliedert. Im Mittelpunkt des sozialgeschichtlich ausgerichteten ersten Teils steht die Praxis der Enttrümmerung während des Krieges und in der Nachkriegszeit. Die Teile zwei und drei wiederum widmen sich dem eigentlichen Gegenstand, der Genese der Erinnerungsfigur "Trümmerfrau" in der Nachkriegszeit und ihrer Wandlungen im deutsch-deutschen Systemvergleich bis zum Ende der 1980er Jahre. Diese Gliederung erweist sich als ein Glücksfall. Sie erlaubt es der Verfasserin am Beispiel ausgewählter Städte in West- und Ostdeutschland detailliert nachzuzeichnen, wie die Enttrümmerung vor Ort funktionierte, welchen Leitlinien sie folgte und wer dabei zum Einsatz kam. Auf dieser Grundlage kann Treber nachweisen, dass die Kommunen während des Krieges neben den professionellen Kräften des Sicherheits- und Hilfsdiensts (später umbenannt in Luftschutzpolizei) und der Wehrmacht verstärkt auf Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge zurückgriffen, um Straßen frei zu machen und das städtische Leben notdürftig wieder in Gang zu bringen.

Nach Kriegsende wurden zunächst mehrere Ansätze synchron verfolgt, um die gewaltigen Trümmerberge abzutragen. Der Gedanke der Trümmerräumung als Strafarbeit lebte fort, allerdings insofern unter umgekehrten Vorzeichen, als jetzt ehemalige Angehörige der NSDAP zwangsverpflichtet wurden. Daneben aber bemühten sich die Kommunen schon bald darum, die Trümmerräumung in die professionellen Hände des Bauhandwerks zu legen. Schließlich wurden auch ganz gewöhnliche Einwohner als Hilfsarbeiter eingesetzt. Bei aller Eigenlogik der in den einzelnen Städten verfolgten Maßnahmen bildeten sich schon bald zwei unterschiedliche Strategien heraus, die grob den Linien des Ost-West Konflikts folgten. Während die Kommunen in den westlichen Besatzungszonen den Einsatz von Maschinen bevorzugten, wurde in den Städten der sowjetischen Besatzungszone und in der Vier-Sektoren-Stadt Berlin statt auf schweres Gerät stärker auf Handarbeit zurückgegriffen. Neben männlichen Arbeitskräften setzte man dabei auch auf Frauen als ungelernte Hilfsarbeiter. Insgesamt, das macht der erste Teil deutlich, spielten Frauen lediglich eine nachrangige Rolle bei der Enttrümmerung der deutschen Städte, wenn auch vor allem auf dem Gebiet der späteren DDR und in Berlin verstärkt weibliche Arbeitskräfte zum Einsatz kamen.

Wie Teil zwei zeigt, war die "Trümmerfrau" eine Erfindung der (ost-)deutschen Nachkriegspresse. Tageszeitungen und Frauenzeitschriften wie "Die Frau von heute" und "Für Dich" definierten die negativ konnotierte Arbeit des Schutträumens als "Strafarbeit" positiv um in eine doppelte Pionierleistung für die Emanzipation der Frau und den Aufbau des Sozialismus. Im Westen hingegen blieb das Motiv der Trümmerfrau negativ konnotiert als Beispiel für die Ausbeutung im Sozialismus und Degradierung der Frau zum "Mannweib". Wie schließlich der dritte Teil deutlich macht, wurde "die Trümmerfrau" in der Bundesrepublik erst in den 1970er und 1980er Jahren zu einem positiv besetzten Gedächtnisort. Dies war eine Folge zweier unabhängiger, aber einander verstärkender Prozesse, die zum einen mit der aktivistischen Geschichtsschreibung der Neuen Frauenbewegung und zum anderen mit der Sozial- und Rentengesetzgebung verknüpft waren.

Treber hat eine mit großem Gewinn zu lesende Studie vorgelegt - methodisch reflektiert und differenziert in der Argumentation, empirisch dicht belegt und dabei angenehm unaufgeregt im Urteil. Sie dekonstruiert überzeugend eine zentrale Ikone der Nachkriegszeit, ohne dabei zu skandalisieren. Wünschenswert wäre lediglich gewesen, den Text einem energischeren Lektorat zu unterwerfen und ihn an der einen oder anderen Stelle zu straffen. Das ändert jedoch nichts an Bedeutung dieser Pionierstudie, der eine breite Resonanz auch über den Kreis der interessierten Fachöffentlichkeit zu wünschen ist.

Einen vielversprechenden Ansatz verfolgt auch die Arbeit von Martina Metzger, die sich in vergleichender Perspektive der "Bewältigung" des Bombenkriegs und seiner sozialen wie materiellen Folgen widmet. Der Untersuchungszeitraum von 1940 bis 1955 ist gut gewählt und geeignet, Kontinuitäten über das Kriegsende hinweg sichtbar werden zu lassen. Die Wahl der Vergleichsstädte London und Berlin ist zwar nicht originell, aber nachvollziehbar. Keine Stadt im Vereinigten Königreich wurde so häufig von deutschen Flugzeugen angegriffen wie London. Und auch Berlin kam vor allem in der Perspektive des britischen Bomber Command eine Schlüsselstellung zu, wie die Flächenangriffe des Battle of Berlin von 1943/44 verdeutlichen.

Die Studie gliedert sich in sechs Teile, die thematische Zugänge mit einer chronologischen Struktur verbinden. Auf die Einleitung folgen zwei einführende Kapitel zur stadtgeschichtlichen Entwicklung Berlins und Londons und zum Verlauf des Luftkriegs. Beide tragen wenig zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand bei und bleiben überraschend oberflächlich in ihren Befunden. So erfährt der Leser zum Beispiel nicht, wie viele Einwohner die beiden Städte um 1940 zählten. Ebenso wenig wird konkret belegt, welches Ausmaß einzelne Angriffe oder Angriffswellen hatten.

Die beiden folgenden Kapitel machen den eigentlichen Kern der Arbeit aus. Kapitel vier nimmt die "Auswirkungen und Nachwirkungen" des Bombenkriegs in den Blick, wobei zwischen "baulich-materiellen" Folgen und den "Auswirkungen auf die Moral" unterschieden wird. Kapitel fünf widmet sich den "Strategien zur Bewältigung", die wiederum zwischen den Sofortmaßnahmen auf der einen Seite und längerfristigen Planungen sowie "menschlichen Bombenkriegserfahrungen" auf der anderen differenzieren. Recht schematisch widmet sich Metzger abwechselnd in jeweils eigenen Unterabschnitten London und Berlin. Kapitel sechs schließlich fasst die Ergebnisse der Untersuchung knapp zusammen.

Metzgers Arbeit zeichnet sich durch das Bemühen aus, der Tendenz zur Dramatisierung entgegenzutreten, die vor allem populärgeschichtliche Darstellungen des Luftkriegs durchzieht. "Feuer" fällt hier nirgends "vom Himmel", und die Städte "sterben" auch nicht. Stattdessen wird nüchtern und beinahe technizistisch (und unter Verwendung eines schwer zu durchdringenden Nominalstils) von "Veränderungen", "Folgen", "Maßnahmen", und "Strategien" berichtet. Zwei zentrale Befunde gilt es hervorzuheben. Erstens macht die Arbeit deutlich, dass das Ausmaß der Luftangriffe allein keinen Aufschluss darüber zulässt, wie tiefgreifend die unmittelbaren und langfristigen Folgen waren. "Vielmehr wirkten sich hier die Ergebnisse von Luftschutz und Rettungsmaßnahmen entscheidend aus", wie Metzger festhält; auch im "baulich-materiellen Bereich" seien "Bezüge zwischen dem Schadensaufkommen und den Gegenmaßnahmen" festzustellen (323). Zweitens hebt Metzger hervor, dass es beiden Städten überraschend gut gelang, die materiellen und sozialen Folgen der Luftangriffe zu bewältigen, auch wenn für Berlin "Verzögerungen [infolge] der begrenzten Handlungsfähigkeit der in der Konstituierungsphase begriffenen politischen Strukturen nach dem totalen Zusammenbruch" zu konstatieren seien (324).

Mit ihrer Studie liefert Martina Metzger diskussionswürdige Thesen und setzt einen wichtigen Kontrapunkt zu einer weit verbreiteten Tendenz, die Schrecken des Luftkriegs in schillernden Farben auszumalen, von transgenerationalen Traumata zu sprechen und allerorten bleibende "Narben" zu entdecken. Allerdings gilt für die Arbeit in besonderem Maße, dass ein gründliches Lektorat dringend nötig gewesen wäre, um die Lesbarkeit der Studie zu verbessern. Insgesamt machen die Monographien von Treber und Metzger deutlich, dass der Luftkrieg nach wie vor ein wichtiges Forschungsfeld darstellt, dessen Potential auch nach den großen Arbeiten von Dietmar Süß und Richard Overy noch nicht ausgeschöpft ist.


Anmerkungen:

[1] The United States Strategic Bombing Survey. Summary Report (European War), Washington 1945, 16f.

[2] Vgl. Dietmar Süß: Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und Großbritannien, München 2011; Nicole Kramer: Volksgenossinnen an der Heimatfront. Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung, Göttingen 2011; Richard Overy: Der Bombenkrieg. Europa 1939-1945, Berlin 2014.

[3] Vgl. Malte Thießen: Eingebrannt ins Gedächtnis: Hamburgs Gedenken an Luftkrieg und Kriegsende 1943 bis 2005, Hamburg 2007; Jörg Arnold / Dietmar Süß / Malte Thießen (Hgg.): Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa, Göttingen 2009; Jörg Arnold: The Allied Air War and Urban Memory: The Legacy of Strategic Bombing in Germany, Cambridge 2011; Anne Fuchs: After the Dresden Bombing. Pathways of Memory, 1945 to the Present, London 2012.

[4] Vgl. Konrad Jarausch: Out of Ashes. A New History of Europe in the Twentieth Century, Princeton 2015. Vgl. hierzu die Rezension von Gunther Mai in dieser Ausgabe, http://www.sehepunkte.de/2016/01/26864.html; Europa in Ruinen. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944-1948, gesammelt von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1990.

[5] Zitiert nach Matthias Puhle (Hg.): "Magdeburg lebt!" Kriegsende und Neubeginn 1945-1949, Magdeburg 2011, 194.

Jörg Arnold