Rezension über:

Margarette Lincoln: British Pirates and Society, 1680-1730, Aldershot: Ashgate 2014, XIII + 271 S., ISBN 978-1-4724-2993-3, GBP 70,00
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Rezension von:
Robert Bohn
Universität Flensburg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Robert Bohn: Rezension von: Margarette Lincoln: British Pirates and Society, 1680-1730, Aldershot: Ashgate 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 11 [15.11.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/11/25788.html


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Margarette Lincoln: British Pirates and Society, 1680-1730

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Die Literatur über Piraten ist Legion, kein Aspekt scheint unerforscht. Und doch gibt es immer wieder Darstellungen, die die Geschichte der Piraterie aus einem überraschend anderen Blickwinkel mit neuen Fragestellungen betrachten. Um eine solche Neuerscheinung handelt es sich bei dem vorliegenden Buch von Margarette Lincoln, der Vizedirektorin des Maritime Museums in Greenwich. Das Buch befasst sich mit nur 50 Jahren der seit Anbeginn der Seefahrt existierenden maritimen Geisel, nämlich mit deren "Goldenem Zeitalter", wie die Zeitspanne zwischen 1680 und 1730 mit ihrem starken Aufblühen der Piraterie in der einschlägigen Literatur häufig genannt wird. Lincoln schließt sich dieser Charakterisierung an. Sie hat gute Gründe dafür. Damals befuhren - vorsichtig geschätzt - jährlich bis zu 5.000 Seeräuber den Atlantik und den Indischen Ozean - die beiden Weltmeere, auf denen die euro-amerikanischen Piraten stark überwiegend ihrem Raubgeschäft nachgingen. Unter ihnen stachen diejenigen englischer bzw. britischer Provenienz deutlich hervor. Und diese stehen im Fokus von Lincolns Betrachtungen. Dabei interessiert sie in erster Linie, wie der Pirat dieses Zeitalters in der damaligen englischen Presse und Literatur konstruiert und in wechselnden historischen und nationalen politischen Kontexten definiert wurde - und welche gesellschaftlichen Kräfte an all dem maßgeblich beteiligt waren und dieses Konstrukt instrumentalisierten. Ein weiterer Fokus liegt auf der Rolle der Öffentlichkeit und deren Wahrnehmung der Piraterie. Dabei werden klassenspezifische Muster deutlich, die sich zwischen Faszination und Abscheu bewegen.

In Kriegszeiten, insbesondere in den Kriegen gegen die iberischen Reiche und / oder gegen Frankreich, in denen England seinen Anspruch auf überseeische Kolonien und weltweiten Seehandel durchsetzte, dienten Piraten (euphemistisch Privateers oder Adventurers) als willkommene Kombattanten, die mit Kaperbriefen versehen gegnerische Schiffe und Häfen mit Raub und Plünderung überzogen und damit beitrugen, Grundlagen für englische Seemacht zu schaffen, wofür sie von der heimischen Publizistik gefeiert wurden. Dadurch entstanden, wie Lincoln zeigt, aus moralisch zweifelhaften Akteuren wie Henry Morgan, Henry Mainwaring oder William Dampier, um nur drei der bedeutendsten der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu nennen, Heldenfiguren der englischen kolonialen Expansion, die Dank der heimischen Publizistik das Wohlwollen der politischen Führung erlangten. Ein in der Karibik berüchtigter Mordbrenner wie Morgan erhielt sogar den königlichen Ritterschlag und wurde Vizegouverneur von Jamaika.

Anderen, die im Grunde nicht schlimmer waren als diese 'nützlichen Piraten', erging es dagegen aufgrund geänderter politischer Großwetterlage und entsprechend ausgerichteter Presse schlechter. Dies schildert Lincoln am Schicksal William Kidds ausführlich und beispielhaft. Dieser, ein an sich ehrwürdiger Handelskapitän, ließ sich Ende des 17. Jahrhunderts von einem Londoner Konsortium aus Kaufleuten und Adligen bewegen, mit einem von ihnen besorgten Kaperbrief im Indischen Ozean Jagd auf französische Handelsschiffe sowie Piraten zu machen. Als Kidd 1696 lossegelte, herrschte Krieg mit Frankreich. Beide, das Konsortium und Kidd, rechneten mit reichlich Beute. Andere Freibeuter / Piraten hatten in jenen Jahren gezeigt, was dort zu holen war. Kidd indes war in mehrerlei Hinsicht vom Pech verfolgt: man kreuzte schon mehrere Monate in den fernen Gewässern und französische oder piratische Beute wollte nicht auftauchen, die Mannschaft wurde immer ungeduldiger und drohte zu meutern. In seiner Not ließ Kidd schließlich ein reich beladenes indisches Handelsschiff kapern. Das sollte sich als schicksalhaftes Fehlverhalten erweisen und Kidd an den Galgen bringen. Denn der aufgebrachte indische Mogul hielt sich an den in seinem Reich ansässigen Kaufleuten der Londoner East India Company (EIC) schadlos und verlangte überdies, dass England ein Exempel statuiere und dafür Sorge trage, dass sich dergleichen nicht wiederhole. Die mächtige EIC setzte alle Hebel in Bewegung, nicht nur, um Kidd in London vor Gericht zu bringen, sondern durch Einflussnahme auf die Presse diesen auch als Erzpiraten par excellence darstellen zu lassen. Die ehrwürdigen Financiers der Kidd'schen Kaperfahrt hielten sich selbstverständlich bedeckt und stimmten in den Chor der Verdammnis des Piratenkapitäns ein.

Lincoln zieht das gut dokumentierte Beispiel Kidd nicht nur heran, um zu zeigen, wie gefährlich die Grauzone zwischen mehr oder weniger legitimer Kaperfahrt und Piraterie sein konnte. Es geht ihr auch um das Aufzeigen der Mechanismen, wie mithilfe der Publizistik eine öffentliche Negativfigur geschaffen wurde, der alle piratischen Eigenschaften und Schandtaten der Zeit angedichtet wurden und die, erstaunlich genug, von Generationen von Seeräuberliteratur nahezu unverändert tradiert wurde.

Den an dem ahnungslos zurückgekehrten Kidd in London durchgeführten Schauprozess, über den in der Presse ausführlich berichtet wurde, nimmt Lincoln auch als Aufhänger, um interessante Betrachtungen über die seinerzeitigen englischen Gerichtsverfahren gegen Piraten und die Exekution der Strafen anzustellen. Beides war keineswegs einheitlich. Sie führt erstaunliche Fälle von interessegeleiteten Prozessen vor, bei denen Politik, Kommerz und öffentliche (Vor-)Urteile zu mitunter widersprüchlichen Strafen für ein und dasselbe piratische Delikt führten, ja sogar Kapitalstrafen verhängt wurden, obwohl überhaupt kein piratischer Akt nachgewiesen wurde. In diesem Kapitel des Buches ("Pirates and the Law") werden zudem die erbärmlichen Zustände in den Londoner Gefängnissen dargestellt, in denen der Piraterie Verdächtigte zeitweise zu Hunderten eingepfercht waren. Denn bis 1700 mussten gefangene Piraten zur Aburteilung nach London verbracht werden. Erst danach durften auch in den Kolonien Piratenprozesse durchgeführt werden. Die Zustände in den Londoner Gefängnissen verbesserten sich dadurch allerdings nicht, was ja auch nicht die Absicht war. Lincoln erörtert auch die verschiedenen gesetzgeberischen Maßnahmen der englischen Regierung, mit denen der Seeraub bekämpft werden sollte. Sie kommt zu dem Schluss, dass die antipiratischen Gesetzgebungsakte "helped to establish Britain as a strong political state and create the foundations for imperial expansion" (79). Dass dabei auch das internationale Seerecht eine Weiterentwicklung erfuhr, wird von ihr allerdings nur beiläufig thematisiert.

In einem anderen Kapitel ("Pirates and the Metropolis") untersucht Lincoln, wie die Piratenprozesse von den verschiedenen Gesellschaftsklassen wahrgenommen wurden. So strömten die unteren Schichten jedes Mal zu Tausenden zu den am Themseufer außerhalb der Stadt am Galgen stattfindenden und in der Presse annoncierten Exekutionen, deren grausames Procedere die Autorin detailliert schildert. Die lesekundige Mittel- und Oberschicht stillte ihre Neugierde dagegen mit dem vielfältigen Schrifttum. Wobei dieses Schrifttum oftmals so viel oder wenig mit der Wirklichkeit zu tun hatte wie etwa heutige Kriminalfilme mit der tatsächlichen Polizeiarbeit.

Die Verflechtung von Seeräuberei mit Kommerz und Politik, die am Fall Kidd bereits zum Ausdruck kam, wird in einem besonders spannenden Kapitel ("Pirates and Commerce") ausführlich dargestellt. Es zeigt die vielfältige Interaktion zwischen Piraten und Fernhändlern (vor allem in den englischen Kolonien in Nordamerika), wie Seeraub zum Nutzen englischer Handelsinteressen instrumentalisiert wurde und wie die public opinion (sehr differenziert) die situative Interessengemeinschaft sah: "Our merchants were as good Pyrates at Land as Avery was at Sea", zitiert Lincoln (111) eine dem Gerichtsreporter Daniel Defoe zugeschriebene Äußerung über den "berüchtigten" Piraten Henry Avery.

Die Untersuchung schöpft aus einer großen Zahl verschiedenartiger zeitgenössischer Quellen: Gerichtsakten, Berichte über Piratenprozesse und andere Zeitungsartikel, Parlamentsdebatten, vor allem auch literarische Werke, denn Piraterie wurde in der englischen Literatur des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zu einem ausgesprochen populären Sujet, das in Balladen, Novellen, (Abenteuer-)Romanen (z.B. Defoe) und 'Sachbüchern' weite Verbreitung fand. Dabei gelingt Lincoln stets die Verbindung von darstellenden und analytischen Teilen.

Dadurch, dass sie Vergleiche mit aktuellen Erscheinungsformen von Piraterie einfließen lässt, trägt sie zur Entmythisierung des frühneuzeitlichen Piratenwesens bei. Auch die Legende von der gleichsam urkommunistischen Gleichheit in den Piratengemeinschaften wird als Konstrukt der Publizistik entlarvt, wie überhaupt in diesem Buch weit mehr Aspekte behandelt werden, als in einer kurzen Besprechung vorgestellt werden können - wie beispielsweise die interessante Diskussion über Geschlechterrollen oder das Thema sozialer Alltag und exotische Fremde.

Lincolns sozialgeschichtlich konzipiertes Buch ist leicht verständlich geschrieben und ein unbedingtes Muss für denjenigen / diejenige, der / die sich ernsthaft mit der Geschichte der Piraterie in diesem Zeitalter befassen will.

Robert Bohn