Rezension über:

Rainer Eckert: Opposition, Widerstand und Revolution. Widerständiges Verhalten in Leipzig im 19. und 20. Jahrhundert, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2014, 411 S., ISBN 978-3-95462-343-3, EUR 24,95
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Rezension von:
Christian Halbrock
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Christian Halbrock: Rezension von: Rainer Eckert: Opposition, Widerstand und Revolution. Widerständiges Verhalten in Leipzig im 19. und 20. Jahrhundert, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/07/26747.html


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Rainer Eckert: Opposition, Widerstand und Revolution

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Nicht ohne Grund forderte Karl-Wilhelm Fricke 1999, dass vor der "theoretischen Durchdringung" der Widerstandsgeschichte die "Aufarbeitung der Fakten stehen" müsse. Sonst ließen sich die "Ziele und Motivationen und kausalen Zusammenhänge sowie die inneren und äußeren Bedingungen von Opposition und Widerstand in der SBZ/DDR nicht definieren."[1] Beides ist nach wie vor geboten, die Theoriebildung und die empirische Erhebung müssen Hand in Hand gehen. Auch Rainer Eckert hat sich in den 1990er Jahren an der Theoriebildung beteiligt. Mit seinem Buch Opposition, Widerstand und Revolution. Widerständiges Verhalten in Leipzig im 19. und 20. Jahrhundert legt er nun eine Abhandlung zum politisch abweichenden Verhalten in der zweitgrößten Stadt der DDR vor. Eckerts Sympathie für Leipzig ist offensichtlich: In Leipzig nahm für ihn "der Sturz der SED-Diktatur seinen Anfang, hier wurde der Weg zur deutschen und europäischen Vereinigung [...] geebnet." (16) Die Leipziger erscheinen in dieser Darstellung als zum Widerspruch prädestiniert; die Frage, warum sich aus der zweitgrößten Stadt der DDR in einigen Jahren weniger als aus kleineren Orten wie Jena vernehmen ließ, wird leider nicht gestellt. Auch die Tatsache, dass sich die, die aufbegehrten, an allen Orten der DDR in einer erdrückenden Minderheit befanden und von der angepassten Mehrheit gemieden wurden, kommt nicht zu Sprache. Das Buch ist vor allem eine Geschichte das Mutes und des Aufbegehrens, und die Helden, um die es hier geht, wohnten in dem postum zur Heldenstadt erklärten Leipzig.

Eckert widmet der Geschichte vor 1945 nur wenig Raum. Es folgt eine methodische Einführung zum Thema "politische Repression" (34) und "Opposition und Widerstand" (45) unter den Bedingungen der kommunistischen Diktatur, bevor das Buch sich seiner eigentlichen Mission zuwendet, die Geschichte des politisch abweichende Verhalten von 1945 bis 1989 zu erzählen. Eckert geht auf die Bereiche ein, in denen es zu Widerspruch und Widerstand kam - so auf die Vertreter der an den Rand gedrängten bürgerlichen Parteien, auf die unterdrückten Sozialdemokraten, die Kirchen und Universitäten. Zugleich behandelt der Autor einzelne Ereignisse, die für Leipzig wichtig wurden, so den Volksaufstand 1953, die "Beatdemonstration" 1965, die Sprengung der Universitätskirche 1968 und fragt, welche Proteste es anlässlich der Volksabstimmung und dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen 1968 in die Tschechoslowakei gab.

Die Darstellung liest sich informativ, weist jedoch Lücken auf. So wird zwar die Inhaftierung des Studenten Willi Lange erwähnt. Die von Willi Lange verfasste, eindrucksvolle Autobiographie, in der er auf seine Inhaftierung und Haft eingeht, findet keine Berücksichtigung und wird auch nicht im Literaturverzeichnis genannt. [2] Bei der Darstellung der 1970er und 1980er Jahre orientiert sich der Autor stark am Narrativ derer, die ab Mitte der 1980er Jahren zur Bürgerrechtsszene der Messestadt dazu stießen und nach 1989 die Erinnerung vorantrieben. Positiv hervorzuheben ist, dass all das, was im Einzelnen in den 1980ern geschah, nun in einem kompakten Lesebuch zusammengefasst wurde. Doch bleiben die Gruppenfindungsprozesse wie die frühen Aktionen der Leipziger Gruppen oft nur schemenhaft oder finden keine Erwähnung. Auch die Vernetzung zu den Gruppen in der DDR und der daraus resultierende Findungsprozess lassen sich, aufgrund der Leipzig-Fokussierung, nur bedingt nachvollziehen. Das Entstehen der Umweltgruppen wird so auf die wirtschaftliche Wachstumspolitik der SED und die Geheimhaltung der Umweltdaten reduziert. Der subkulturelle Aufbruch von rebellierenden Jugendlichen, die sich gegen die angepasste Mehrheitsgesellschaft wandten, am Westen und den Umweltprotesten dort orientierten, bleibt als Ursache unerwähnt. Die erste Protestfahrt Leipziger Umweltschützer 1981 nach Liemehna sowie das frühe Engagement der AG Umweltschutz am Konvikt in der Paul-List-Straße, aus dem erst die AG Umwelt beim Stadtjugendpfarramt hervorging, finden keinen Niederschlag. Doch sind es nicht die Ungenauigkeiten, die zu beanstanden sind, sondern es ist die Summe, die die Darstellung im Ergebnis beeinträchtigt. Der Leser erfährt zwar so, wer die Aktion "Eine Mark für Espenhain" in Leipzig mitgetragen hat, aber nicht, dass die Initiative aus Dresden kam. Auch die Treffen im Wittenberger Forschungsheim fanden nicht ab 1984, sondern schon ab 1983 statt. Mehrere Namen aus Leipzig, die für die Genese der Alternativszene der DDR bedeutsam waren, bleiben unerwähnt, wohl deshalb, weil sie Ende der 1980er Jahre woanders oder nicht mehr aktiv waren und denen, die die Erzählung in Leipzig nach 1989 geprägt haben, nicht geläufig sind.

Spätestens ab Seite 152 wird das Buch zu einem Buch über die Revolution von 1989. Unterbrochen wird die Erzählung durch das knapp gehaltene Kapitel "Gegenkultur": konkret geht es um unangepasste Künstler, Untergrundzeitschriften, Tramper, Punks, "Heavy Metals", "Gruftis" und "Hausbesetzer". Die "Hausbesetzer" sind mit drei Sätzen abgehandelt. Das informative Buch "Schwarzwohnen" von Udo Grashoff bleibt gänzlich unberücksichtigt. [3] Dies trifft auch zu auf Grashoffs Ausführungen zu den Punk Gruppen "Wutanfall" und "L'Attentat", die in der Besetzerszene fest verankert waren. Hier zeigt sich das Problem der oft allzu summarischen Aufzählung, die weder die Leipziger Quergeister untereinander noch die Leipziger Szene mit den Rebellierenden in anderen Orten der DDR in Beziehung zueinander zu setzen versteht. Der faktenreichen Darstellung des politisch abweichenden Verhaltens fehlt die Geschichte der Gegen-Gesellschaft in Leipzig und dem Rest der DDR. Trotz alledem ist das vorliegende Buch eine informative und interessant zu lesende Übersicht zum Geschehen in der zweitgrößten Stadt der DDR.


Anmerkungen:

[1] Karl-Wilhelm Fricke: Dimensionen von Opposition und Widerstand in der DDR. In: Klaus-Dietmar Henke / Peter Steinbach / Johannes Tuchel: Widerstand und Opposition in der DDR (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; 9), Köln / Weimar / Wien 1999, 20-43, hier 21.

[2] Willi Lange: Such dir einen zweiten Mann. Von Stasihaft in Leipzig und mecklenburgischem Landpastorenleben, Schwerin 2010.

[3] Udo Grashoff: Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR, Göttingen 2011.

Christian Halbrock