Rezension über:

Pablo Schneider / Barbara Welzel (Hgg.): Martin Warnke: Zeitgenossenschaft. Zum Auschwitz-Prozess 1964, Berlin: Diaphanes Verlag 2014, 128 S., 19 s/w-Abb., ISBN 978-3-03734-710-2, EUR 17,95
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Rezension von:
Jörg Probst
Institut für Politikwissenschaft, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Philippe Cordez
Empfohlene Zitierweise:
Jörg Probst: Rezension von: Pablo Schneider / Barbara Welzel (Hgg.): Martin Warnke: Zeitgenossenschaft. Zum Auschwitz-Prozess 1964, Berlin: Diaphanes Verlag 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/07/26410.html


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Pablo Schneider / Barbara Welzel (Hgg.): Martin Warnke: Zeitgenossenschaft

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Situatives Denken ist vermutlich deshalb noch nicht zum Anlass einer besonderen Wende in den Wissenschaften genommen geworden, weil den engagierten und ertragreichen turns der vergangenen Jahre starke zeitdiagnostische Motive ohnehin eingeschrieben waren. Keine dieser jüngeren, fächerübergreifend wirksamen Schwerpunktsetzungen legitimierte sich lediglich durch den Hinweis auf bisher übersehene Lücken der Forschung. Wie für den material turn oder den spatial turn war vor allem die Bildwissenschaft und ihre Maxime, ein Korrektiv gegen die sogenannte "Bilderflut" zu sein, unübersehbar kulturkritisch, d.h. politisch orientiert. Es ist dieser Maßstab, der an die Publikation "Zeitgenossenschaft" über frühe journalistische Arbeiten von Martin Warnke bzw. an die von den Herausgebern damit verbundenen Beobachtungen zur gegenwärtigen Situation in den Geisteswissenschaften anzulegen ist.

Situativ ist schon der Gegenstand des von Pablo Schneider und Barbara Welzel edierten Bandes: die im Frühjahr 1964 anonym erschienene Serie von Berichten des 27-jährigen Martin Warnke, der kurz zuvor mit einer Arbeit zu Rubens als Diplomat promoviert worden war, über den im Herbst 1963 beginnenden Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main. Das Ereignis wurde bereits 1965 ausgiebig dokumentiert und ist seit einigen Jahren erneut Gegenstand ausführlicher Quelleneditionen. [1] Diese Literatur wird durch die jetzt erschienenen Artikel zugunsten einer wissenschafts- und ideengeschichtlichen Erforschung des Frankfurter Strafverfahrens wirksam bereichert. Die Texte überraschen durch die Nüchternheit und Sachlichkeit, mit der Warnke als akkreditierter Prozessbeobachter der Stuttgarter Zeitung seine Leser sowohl an den Aussagen von Angeklagten und Zeugen über den verbrecherischen Alltag in den Konzentrationslagern des Nazi-Regimes als auch an der Unverfrorenheit der Täter und ihrer Verteidiger bei der Wiederbegegnung mit den Opfern teilhaben ließ. Ein von Jörg Osterloh und Clemens Vollnhals vorgelegter Sammelband über NS-Prozesse und die Öffentlichkeit in der frühen Bundesrepublik von 2011 [2] ging der Symbolik der sprachlichen Gestalt dieser Presseberichte nicht ausdrücklich nach. Schon als Anregung zu solchen bislang fehlenden Untersuchungen stellen Warnkes Artikel einen großen Gewinn dar. Die Sammlung dieser eindrucksvollen Texte ergänzt ein Interview, in dem Martin Warnke unter anderem über den sofort auffallenden klaren, scheinbar emotionslosen Stil seiner Beobachtungen selbst Auskunft gibt. Demnach dokumentiert das Stakkato dieser Aufzeichnungen auch die besondere Art der Weitergabe der Informationen per Fernschreiber vom Gerichtsgebäude in die Zeitungsredaktion. "Man machte sich während des Verhandlungsverlaufs Notizen", erinnert sich Warnke minutiös, "danach ging man zu den Geräten. Jeder Journalist bekam eine Kabine zugeteilt und musste seinen Text, die Apparate hatten eine mechanische, nicht leichtgängige Tastatur, in diesem Augenblick schreiben und an die jeweilige Redaktion durchgeben." (70)

Zum Inhalt wird diese typische Form vor allem durch die juristischen Auflagen der Frankfurter Verhandlungen: Bedingungen der Wahrheitsfindung, die nicht ohne Wirkung auf die Berichte darüber geblieben sein können. Die dem Sammelband von Welzel und Schneider ebenfalls beigegebene profunde zeithistorische Kontextualisierung von Norbert Frei mit noch immer aufwühlenden Informationen über die politisch forcierten Ausbremsungen des prozessleitenden Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer durch die "westdeutsche Gnadenlobby" (56) klärt darüber auf, dass die NS-Täter in Frankfurt nicht - wie von Bauer angestrebt - in einem "Gerichtstag über uns selbst" (63) die NS-Täter schon ihrer verantwortlichen Funktionen in den Holocaust organisierenden Dienststellen des "Dritten Reiches" wegen zur Verantwortung zu ziehen waren. Um über einen seiner Vergangenheit z.B. als KZ-Arzt längst überführten Delinquenten zu richten, waren in Frankfurt unwiderlegliche Beweismaterialien und absolut widerspruchsfreie Zeugenaussagen über seine Tatbeteiligung an konkreten Verbrechen beizubringen. Diese unter den Maßgaben des Auschwitz-Prozesses ins Extrem gesteigerte Geltung des Faktischen in moralischen Fragen, die alles entscheidende Bedeutung von Spuren, Quellen und Dokumenten, veranlasste unter anderem Peter Weiß 1965 in seinem auf Grundlage der Dokumentationen des Frankfurter Prozesses entstandenen Theaterstück "Die Ermittlung" zu einer ungekünstelten direkten, dokumentarischen Diktion. Sie ist auch eine Sinnschicht von Warnkes Texten in deren Reduktion auf Daten und Fakten in einem entscheidenden Moment.

Die Artikel von 1964 "verweigern die Emotionen" (85). In dieser Eigenart einer unter dem Eindruck des Frankfurter Prozesses entwickelten Sachlichkeit greifen sie nicht zuletzt jenem "analytischen Zugriff" (87) voraus, den Martin Warnke nach 1968 mit der von ihm begründeten Politischen Ikonografie einer ästhetisierenden oder ästhetisch deutenden Kunstgeschichte entgegenstellte. Der als Beispiel dafür kanonisch gewordene Band Warnkes über "Das Kunstwerk zwischen Wissenschaft und Weltanschauung" von 1970 [3] mit einschlägigen tiefenhermeneutischen Untersuchungen über das Fortleben faschistoiden Gedankenguts in der Sprache der kunsthistorischen Populärliteratur der deutschen Nachkriegszeit ist zu den Texten über den Auschwitz-Prozess daher nicht nur seinem Gegenstand nach eine Parallele, sondern auch durch seine Form, die sich 1970 schließlich methodologisch konkretisiert. Die um 1960 in den Geschichtswissenschaften allgemein zu beobachtende Entsubjektivierung ist auf ein "Schlüsselereignis" (105) allein gewiss nicht zurückzuführen. Bereits in seiner Dissertation von 1963 über Peter Paul Rubens als Diplomaten und seine Briefe hatte Martin Warnke eine ihn in den Augen einflussreicher Kollegen zum "Pseudomarxisten" (87) abstempelnde Rezeption von Jürgen Habermas' gerade erst erschienenen Studie zum, "Strukturwandel der Öffentlichkeit" von 1962 gewagt. Die Texte von 1964 über den Frankfurter Auschwitz-Prozess sind somit in ihrer von Einfühlungen und Psychologisierungen weit entfernten nüchternen Diktion und in ihrer Orientierung auf strukturelle politische Zusammenhänge für eine allgemeinere Ideengeschichte oder intellectual history der Bundesrepublik wertvolle Bausteine. Sie machen die geistespolitische Situation zu Anfang der 1960er-Jahre, als die ideologiekritische Hermeneutik vor allem in der Kunstgeschichte noch alles andere als selbstverständlich war, interdisziplinär erforschbar.

Situativ ist der Band "Zeitgenossenschaft" schließlich auch darin, mit den Artikeln Martin Warnkes zum Auschwitz-Prozess der heutigen akademischen Welt den Spiegel vorhalten und zu einem stärkeren Engagement für außerakademische tagespolitische Fragen aufrufen zu wollen. Von Argumentationen und Deutungen Abstand nehmend und sogar anonym erschienen, sind Warnkes als "zufällige Gelegenheit" (65) entstandene Artikel von 1964 für wissenschaftliche politische Interventionen nicht beispielhaft. Jedoch liegt in den zweifelnden Seitenblicken von Barbara Welzel und Pablo Schneider auf "eine Menge Diskurse [in der aktuellen Kunstgeschichte], die zu den Objekten nicht mehr hinführen und ebenso zu den Institutionen nicht wirklich hinfinden" (110) eine bedenkenswerte Paraphrase der von Martin Warnke seit den frühen 1960er-Jahren verfolgten "Sachlichkeit". Die Hinwendung zu den Objekten, d.h. eine Ideologien und Paradigmen zur Disposition stellende Rückkehr zu den Sachen selbst, kann für sich genommen schon politisch sein. Die Erinnerung daran gibt dem Band angesichts haarsträubender propagandistischer, im Ukraine-Konflikt oder in der Griechenland-Krise nicht selten mit NS-Vergleichen operierender Rhetoriken der aktuellen weltpolitischen Situation seine eigentliche wissenschaftspolitische Bedeutung.


Anmerkungen:

[1] Hermann Langbein: Der Auschwitz-Prozeß. Eine Dokumentation, 2 Bde., Wien 1965 (Neuausgabe Frankfurt am Main 1995); Irmtrud Wojak im Auftrag des Fritz Bauer Instituts (Hg.): Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63, Frankfurt am Main, Begleitbuch zur Ausstellung, Haus Gallus, Frankfurt am Main, Köln 2004; Raphael Gross / Werner Renz (Hgg.): Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965). Kommentierte Quellenedition, 2 Bde., Frankfurt am Main / New York 2013.

[2] Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals (Hgg.): NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen 2011.

[3] Martin Warnke (Hg.): Das Kunstwerk zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, Gütersloh 1970.

Jörg Probst