Rezension über:

Lee Jackson: Dirty Old London. The Victorian Fight against Filth, New Haven / London: Yale University Press 2014, VI + 293 S., 40 s/w-Abb., ISBN 978-0-300-19205-6, USD 38,00
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Rezension von:
Andreas Fahrmeir
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Fahrmeir: Rezension von: Lee Jackson: Dirty Old London. The Victorian Fight against Filth, New Haven / London: Yale University Press 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 4 [15.04.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/04/25729.html


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Lee Jackson: Dirty Old London

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Im Verlauf des 19. Jahrhunderts veränderten Europas große Städte auf eine sehr 'riechbare' Weise ihren Charakter. Eine Welt, in der auf die Straßen gekippte tierische und menschliche Exkremente, knapp unter der Erdoberfläche bestattete Leichen, aus Schornsteinen aufsteigender Ruß und Abfälle, die auf Straßen oder in Hinterhöfen verrotteten, das olfaktorische Panorama darstellten, wich eine Welt, in der Exkremente schnell und zumindest teilweise unauffällig durch die Kanalisation entsorgt wurden, in der die Präsenz von Leichen auf Friedhöfen kaum mehr sichtbar war und in der sich selbst die Luftverschmutzung verminderte. Am Ende der Entwicklung roch die Stadt - von spezifischen Betrieben einmal abgesehen - weniger intensiv als das Land.

Warum das geschah, dafür gibt es eine beinahe kanonische Erklärung: Im Laufe der Zeit wuchs durch die Erfahrung großer Epidemien und die genauere Untersuchung von Übertragungswegen die Skepsis gegenüber den traditionellen Praktiken. Die Einführung von Wasserleitungen und Wasserspülungen verlagerte das Problem aber zunächst von den Sickergruben einzelner Häuser auf die Flüsse, welche große Städte durchzogen. Sobald die Städte gewisse Bevölkerungsgrenzen überschritten, wurde das Leben am Fluss so unerträglich, dass man schließlich die beträchtlichen Mittel in die Hand nahm, die für eine Verlängerung der Kanalisation notwendig waren; so setzten die Metropolen Vorbilder, denen sich andere Städte anschlossen, London nach dem "Great Stink" von 1858, Paris mit einigem zeitlichen Abstand. [1]

Eine Art, das vorliegende Buch zu lesen, ist, dass es diese Geschichte durch einen sehr viel genaueren und zugleich thematisch breiteren Blick differenziert. Anstatt nur die vielfach untersuchten Abwässer in den Blick zu nehmen, erweitert es das Panorama des in London zu bewältigenden 'Schmutzes' um "dust" (Pferdekot und Asche) auf den Straßen, Leichen, Schmutz auf Körpern (der sich durch übelriechendes Wasser - etwa in der lange Zeit auch aus der Kanalisation gespeisten "Serpentine" im Hyde Park - nur schwer entfernen ließ), öffentliche Bedürfnisanstalten, überbelegte Wohnungen und Abgase. Das geschieht auf der Grundlage einer minutiös durchgeführten, ansprechend präsentierten und scharfsichtig argumentierenden Studie auf der Grundlage der Überlieferung der "vestries" (der untersten Verwaltungseinheiten), weiterer Archive, der Londoner Presse und thematisch einschlägiger Pamphlete sowie der stadthistorischen Literatur.

Dabei kann Jackson auf die große Bedeutung individueller Initiativen verweisen, welche viel früher, als in der kanonischen Erzählung dokumentiert ist, auf die Probleme hinwiesen, mit unterschiedlichen Argumenten für öffentliche Unterstützung warben und ihre Programme manchmal durchsetzen konnten, häufiger aber nicht. Exzentriker spielen dabei eine große Rolle, auch das Ränkeschmieden in mikropolitischen Räumen oder Prinzipiendebatten, die bis ins Parlament ausgetragen werden konnten. Außerdem dokumentiert Jackson die von Bereich zu Bereich sehr unterschiedliche Chronologie und sehr unterschiedliche Dauerhaftigkeit der im 19. Jahrhundert erarbeiteten und erstrittenen Lösungen: So steht London heute wieder vor dem Probleme, dass seine Kanalisation hinter dem Wachstum der Stadt zurückgeblieben ist. Die im 19. Jahrhundert angelegten parkartigen Friedhöfe befinden sich vielfach im Zustand eines mehr oder weniger romantischen Niedergangs. Der soziale Wohnungsbau erreichte seine Ziele - adäquaten Wohnraum für die ärmsten Bevölkerungsschichten zu bieten - nie; und die Lösung des Smog-Problems gelang im 19. Jahrhundert nicht und bleibt im 21. Jahrhundert prekär.

Fast noch spannender ist freilich eine andere Lektüre, die das Buch auch ermöglicht, obgleich es sie nicht explizit ins Zentrum stellt. Der genauere Blick auf die Logiken des Umgangs mit Exkrementen, mit dem das Buch beginnt, macht deutlich, dass London - wie alle anderen größeren Städte - im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Ort wie zum Opfer einer grundlegenden Veränderung in der Beziehung zwischen Stadt und Umland wurde. Bis ins frühe 19. Jahrhundert waren die Abfälle der Stadt begehrt und als Ware gut zu verkaufen. Das galt für "night soil" (oder französisch "poudrette") als Weiterverarbeitung des Rohmaterials aus Sickergruben, das als gute Erde auf Felder gestreut wurde, ebenso wie für den "dust" von den Straßen; beides war als Düngemittel bei umliegenden Landwirten begehrt. "Dust" konnte zusätzlich der Rohmasse für Backsteine beigemischt werden. Je größer die Stadt wurde, desto stärker fielen die Preise für diese Waren im Umland. Das bisherige System, das Abfallentsorgung im Wesentlichen den Profitinteressen von Unternehmern überließ, die Lizenzen zur Beseitigung von Unrat erwarben, den sie dann verkaufen konnten, geriet in eine immer tiefere Krise, zumal sich die Stickstoffzufuhr für Äcker zunehmend günstiger aus anderen natürlichen und später synthetischen Quellen besorgen ließ. [2] Die Konzessionäre arbeiteten daher immer selektiver. Sie beschränkten ihre Tätigkeiten auf die profitabelsten Stellen und beachteten Seitenstraßen nicht mehr, was wiederum zu Beschwerden der Einwohner und wachsender Furcht vor negativen epidemiologischen Konsequenzen führte.

Pläne, das Problem durch Abfallbeseitigung als öffentliche Dienstleistung zu lösen, scheiterten zunächst an den hohen Kosten; der Versuch, Straßenkehrer durch eine Uniform und das Recht, sich an Überwegen Trinkgelder zu erbetteln, zu entschädigen, bewährte sich allerdings mittelfristig so wenig, dass man sich gegen Ende des Jahrhunderts doch zur Steuer- oder Umlagefinanzierung bequemen musste, in die in vielen Bereichen zumindest in London aber Elemente der Konkurrenz eingebaut blieben, etwa zwischen privaten und öffentlichen Anbietern von Grabstätten. Die detaillierte Schilderung dieses Übergangs, der sich am Beispiel Londons paradigmatisch beobachten lässt, macht dieses Buch zu einem weit über die Londoner Stadtgeschichte hinaus lesenswerten Text.


Anmerkungen:

[1] Stephen Halliday: The Great Stink of London: Sir Joseph Bazalgette and the Cleansing of the Victorian Metropolis, London 1999; David S. Barnes: The Great stink of Paris and the Nineteenth-Century Struggle against Filth and Germs, Baltimore 2006.

[2] Vgl. Edward D. Melillo: The First Green Revolution: Debt Peonage and the Making of the Nitrogen Fertilizer Trade, 1840-1930, in: American Historical Review 117 (2012), 1028-1060.

Andreas Fahrmeir