Rezension über:

L. J. Andrew Villalon / Donald J. Kagay (eds.): The Hundred Years War (Part III). Further Considerations (= History of Warfare; Vol. 85), Leiden / Boston: Brill 2013, XXII + 563 S., 10 Karten, ISBN 978-90-04-24564-8, EUR 164,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: L. J. Andrew Villalon / Donald J. Kagay (eds.): The Hundred Years War (Part III). Further Considerations, Leiden / Boston: Brill 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 2 [15.02.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/02/23887.html


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L. J. Andrew Villalon / Donald J. Kagay (eds.): The Hundred Years War (Part III)

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Eigentlich dauerte er länger als 100 Jahre. Der Krieg, in der historischen Forschung als "hundertjähriger" bekannt, sah mit England und Frankreich zwei Gegner, die sich seit den 30er Jahren des 14. Jahrhunderts bis 1453 in einer Reihe militärischer Auseinandersetzungen gegenüberstanden - von einem kontinuierlichen Kriegsgeschehen kann freilich keine Rede sein. Doch waren einige Schlachten derart bedeutsam für die Entfaltung eines "instinct national" - Crécy 1346, Poitiers 1356 -, dass dieser "Krieg" seit Jahrzehnten Gegenstand einer kaum mehr überschaubaren (geschweige denn rezipierbaren) Fülle von Sekundärliteratur ist. Was zeichnet die vorliegende Aufsatzsammlung aus, welche neuen Erkenntnisse bietet sie? Zunächst: Einige der Beiträge lösen tatsächlich das ein, was von Kelly de Vries einst energisch eingefordert worden war: den "wider view". [1] Die beiden von denselben Herausgebern verantworteten Vorgängerbände haben diese perspektivische Weitung bereits angedeutet, konsequent verwirklicht wurde sie hier. Es zeigt sich, dass der "Hundertjährige Krieg" nicht nur mehr als eine rein französisch-englische Angelegenheit ist, sondern er auch insbesondere in seiner Spätphase mit einer Reihe von Ereignissen und Phänomenen aufwarten kann, die aufgrund der vorherrschenden Fokussierung auf die Geschehnisse um die Mitte des 14. Jahrhunderts bisher nicht die Beachtung gefunden haben, die ihnen eigentlich gebührt.

Der in sieben große Themenblöcke - I. New Sources; II. War Leaders Good and Evil; III. The War's Effect on English Regions; IV. English Colonialism; V. Psychological, Fiscal, and "Scientific" Aspects of the War; VI. Royal Pardons; VII. The War in the Low Countries - und drei kleinere Anhänge gegliederte Band bietet neben neuen Forschungserkenntnissen zwangsläufig auch Altbekanntes. Doch sind einige Beiträge qualitativ derart herausragend, dass man Beispiele von Dritt- oder gar Viertverwertung von Forschungsergebnissen (Odio, Elina: Gilles de Rais: Hero, Spendthrift, and Psychopathic Child Murderer of the Later Hundred Years War, 145-184) gerne nachsieht. In der Folge sei der Blick auf einige der originären Forschungsleistungen gerichtet.

Andrew Villalon, einem der Mitherausgeber des Bandes, ist der längste, ungemein instruktive Artikel zu einem Phänomen zu verdanken, das bereits von den Zeitgenossen heftig kritisiert wurde: den im 14. Jahrhundert von den englischen Königen als Belohnung oder Anreiz für militärische Dienste gewährten "military pardons" ("Taking the King's Shilling" to avoid "the Wages of Sin": Royal Pardons for Military Malefactors During the Hundred Years War, 357-435). Sie erscheinen zum ersten Mal Ende des 13. Jahrhunderts. Insbesondere Edward III. machte davon extensiven Gebrauch. Es handelt sich dabei um nur aus wenigen Worten bestehende, an vergangene oder zukünftig zu leistende militärische Dienste gebundene Zusagen, die bis zu einem bestimmten Stichtag in England verübten Verbrechen - in den meisten Fällen Mord und Eigentumsdelikte - zu vergeben. Villalon liefert damit wertvolle Ergänzungen zum jüngst erschienenen Überblickswerk Helen Laceys, die den militärischen pardons freilich nur am Rande Beachtung schenkte. [2] Und anders als viele seiner Kollegen sieht er durchaus auch positiven Aspekte dieses Phänomens, hätte die Bewilligung von pardons doch dazu beigetragen, englische Landstriche von Kriminellen zu befreien und den König in die Lage versetzt, auf Männer zurückzugreifen, die über Geld und/oder Erfahrung im Umgang mit Waffen verfügten. Viele pardons finden sich in den Registern als cluster (374f.), vor allem im zeitlichen Umfeld der großen militärischen Kampagnen Edwards III. auf dem Kontinent: So erließ er ab September 1346 mehrere Tausend pardons, allein am 4. September nicht weniger als 1138. Umfangreiche Appendices, die vom großen Vertrauen Villalons in die Vollständigkeit der im Calendar of Patent Rolls enthaltenen Regesten zeugen, enthalten: 1. Urkunden; 2. Listen (z.B. mit gebräuchlichem Formelgut (leider nur in englischer Übersetzung)); 3. Methodische Bemerkungen und 4. Bilder.

Weiterführende Erkenntnisse zu den auf dem Kontinent kämpfenden englischen Soldaten bietet eine neue, an den Universitäten von Reading und Southampton angesiedelte und vom Arts and Humanities Research Council finanzierte elektronische Ressource, deren Aufbau und Ziele überzeugend erläutert werden (Bell, Adrian R. / Curry, Anne / Chapman, Adam / King, Andy / Simpkin, David: The Soldier in Later Medieval England: An Online Database, 19-46). Die Datenbank, in der jeder Soldat erfasst wird, der im Zeitraum von 1369 bis 1453 für die englische Krone kämpfte, hält unterschiedliche Zugriffsmöglichkeiten bereit und wartet für jede Person mit folgenden Fundamentaldaten auf: Vorname, Familienname, Status, militärische Funktion, Name des captain, Name des commander, Einsatzjahr, konkret ausgeübte Tätigkeit, Archivsignatur (www.medievalsoldier.org). Sehr viel genauer als bisher sind nun beispielsweise Angaben darüber möglich, an wie vielen Kriegszügen einzelne Soldaten beteiligt waren - und so drängt sich bei nicht wenigen Personen fast schon der Eindruck auf, sie seien Angehörige einer professionellen Armee gewesen. Die Leistungsfähigkeit der Datenbank wird anhand dreier, in unterschiedlicher Funktion kämpfender Personen verdeutlicht: insbesondere das Beispiel des einfachen, nicht dem Adel angehörenden Bogenschützen Robert de Fishlake zeigt, welch umfangreiches prosopographisches Material in den für die Datenbank ausgewerteten muster rolls enthalten ist. Es lassen sich nun aber nicht nur militärische Karrieren rekonstruieren, sondern grundsätzliche militärische Entwicklungen wie das sich ändernde Verhältnis von men-at-arms und Bogenschützen sehr viel besser nachvollziehen.

Einblick in die administrative Durchdringung neu eroberter Gebiete auf dem Kontinent bietet Anne Curry (Henry V's Harfleur: A Study in Military Administration (1415-1422), 259-284) auf der Grundlage zweier, in Harfleur entstandener und den Zeitraum 1416-1420 abdeckender Rechnungsbücher. [3] Die strategisch bedeutende Hafenstadt diente als Brückenkopf für die Eroberung von Calais (und später weiterer Gebiete der Normandie) und verfügte bis 1420 über eine eigenständige Finanzverwaltung. Currys Artikel richtet den Blick auf die Entwicklung der Stadt in diesem Zeitraum und geht der Frage nach, wie sich veränderte militärische Bedingungen in den Verwaltungsstrukturen widerspiegelten. Harfleur beherbergte 1415/16 eine Garnison mit rund 1200 Mann und band damit ein Zehntel der militärischen Kräfte, mit denen Henry V. England verlassen hatte. Diese Anzahl wurde in der Folge immer weiter reduziert, weil das kämpfende Personal anderswo dringender benötigt wurde. Wie vor der Invasion wurde Harfleur, nicht zuletzt aufgrund der erfolgreichen Anwerbung englischer Siedler, zum wichtigen Handels- und Warenumschlagsplatz.

Mit Harfleur eng verbunden ist die Person des Thomas, Lord Morley, dem Philip Morgan eine eindrucksvolle biographische Skizze widmet (Going to the Wars: Thomas, Lord Morley in France, 1416, 285-314). Im Zentrum des Artikels stehen aber nicht Morleys Aktivitäten im Rahmen der Eroberung von Harfleur, sondern die Haushaltsrechnungen während seiner "Kampagne" auf dem Festland (Staffordshire Record Office, D641/3/R/1/2). Sie bieten Einblick in das finanzielle Engagement Morleys, das sich etwa in der Rekrutierung und Ausstattung seines Gefolges oder dem Umbau eines Handelsschiffes für Kriegszwecke niederschlug. Die zentrale Stellung in London ansässiger Finanziers wird ebenso deutlich: mehr als 24 £ an "Gefälligkeitszahlungen" (und damit rund ein Zehntel der Kreditsumme) wurden im Zuge der Kreditaufnahme bei einem Londoner Händler fällig. Man bedauert, dass in einem Anhang (301-314) lediglich die englische Übersetzung der Household Roll, nicht aber der Originaltext, abgedruckt wurde.

Auch weitere Beiträge - hervorgehoben seien die Überlegungen zu den physischen (und psychischen) Verwüstungen, die die chevauchées des Schwarzen Prinzen hinterließen (McGlynn, Sean: "Sheer terror" and the Black Prince's Grand Chevauchée of 1355, 317-331) - verstärken den Eindruck, dass selbst ein derart umfassend erforschtes Phänomen wie der "Hundertjährige Krieg" noch immer erstaunliche, die weitere Forschung befruchtende Entdeckungen ermöglicht.

Es wäre also nicht verwunderlich, wenn bald ein weiterer Fortsetzungsband erschiene, in dem der in vorliegendem Sammelband eingeschlagene Weg konsequent weiterverfolgt würde. Wenn man die Quellen dann zusätzlich zur Übersetzung auch noch im Original anführte, würde dies den Wert einer solchen Publikation noch zusätzlich steigern.


Anmerkungen:

[1] Kelly de Vries: The Hundred Years War: Not One but Many, in: The Hundred Years War (Part II: Different Vistas), ed. by L. J. Andrew Villalon / Donald J. Kagay, Leiden 2008, 3-32. Vgl. auch den Titel des ersten Bandes: Hundred Years War: A Wider Focus, ed. by L. J. Andrew Villalon / Donald J. Kagay, Leiden 2004.

[2] Helen Lacey: The Royal Pardon: Access to Mercy in Fourteenth Century England, Woodbridge 2009.

[3] Auch hier handelt es sich um ein Beispiel von Zweitverwertung. Der Artikel erschien ursprünglich unter dem Titel "Harfleur et les Anglais 1415-1422", in: La Normandie et l'Angleterre au Moyen Age, éd. p. P. Bouet / V. Gazeau, Caen 2003, 249-263, wurde jedoch kaum rezipiert. Der Wiederabdruck in englischer Sprache dürfte diese Rezeption in der angloamerikanischen Welt befördern.

Ralf Lützelschwab