Rezension über:

Jürgen Zimmerer (Hg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt/M.: Campus 2013, 524 S., ISBN 978-3-593-39811-2, EUR 39,90
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Rezension von:
Ina Markova
Universität Wien
Empfohlene Zitierweise:
Ina Markova: Rezension von: Jürgen Zimmerer (Hg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt/M.: Campus 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 4 [15.04.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/04/24788.html


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Jürgen Zimmerer (Hg.): Kein Platz an der Sonne

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Memory sells. Vielerorts haben sich Historikerinnen und Historiker der Bestandsaufnahme "nationaler" Gedächtnisse gewidmet, mittlerweile gibt es auch Versuche binationaler Perspektiven auf die Vergangenheit; auch genuin europäische Gedächtnisorte werden beschrieben. [1] Deutschlands Gedächtnislandschaft haben schon 2001 Etienne François und Hagen Schulze vermessen. [2] Waren die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, die Wiedervereinigung sowie die Frage nach Deutschlands Verhältnis zu seinen europäischen Nachbarn nachvollziehbare und wichtige Leitlinien bei der Suche nach deutschen lieux de mémoire gewesen, so brachte dieser Fokus die Vernachlässigung des kolonialen Erbes mit sich. Diese Lücke möchte der 2013 erschienene Band "Kein Platz an der Sonne" schließen.

Historiografisch kann schon seit längerem ein wachsendes Interesse am Deutschen Reich in transnationaler, auch kolonialer, Perspektive festgestellt werden. [3] Der Historiker Jürgen Zimmerer beschreibt nun in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Sammelbands eine "koloniale Amnesie" der Deutschen, die allmählich zu schwinden scheine. Was man lange als "exotisches Nischenthema" und als Problem der anderen europäischen Staaten wahrgenommen habe, sei nun endgültig zum Thema von Politik und Öffentlichkeit geworden (9). Zu Recht stellt Zimmerer fest, dass in den von François und Schulze verantworteten "Deutschen Erinnerungsorten" nahezu jeder Bezug auf die außereuropäische Welt fehle und auch der Kolonialismus außen vor bleibe. Als Konsequenz daraus postuliert Zimmerer die notwendige postkoloniale Erweiterung der Sicht auf die deutsche (Gedächtnis-)Geschichte (13).

Nach dem einführenden Aufsatz präsentieren 32 Beiträge kaleidoskopartig Personen, Institutionen, Ereignisse sowie mentale und materielle Vorstellungswelten an der Schnittstelle zwischen Deutschland und seinen Kolonien. "Die Südsee", "Kilimandscharo", aber auch Filme wie "Serengeti darf nicht sterben" werden etwa im ersten Abschnitt des Buchs als Beispiele für kolonialistische Vorstellungswelten behandelt. Besonders anregend ist die oft kurzweilige Lektüre dort, wo in beziehungsgeschichtlicher Perspektive die Verflechtungen zwischen Deutschland und dem kolonialisiertem Raum sowie das Nachwirken des kolonialen Blicks dargestellt werden. Wolfgang Fuhrmann zeichnet etwa das Wechselverhältnis der Wahrnehmung von "deutschem Wald" und kolonialem "Urwald" nach, wobei er letzteren als kollektives Phantasiebild beschreibt, das als Kristallisationspunkt gemeinschaftlicher Erinnerungen das Ende der Kolonialzeit überdauerte (56f.).

In einem zweiten Abschnitt werden unter der Überschrift "Weltpolitik" wichtige Ereignisse wie die Berliner Afrika-Konferenz 1884/85 oder die berüchtigte Hunnenrede Kaiser Wilhelm II. vorgestellt. Auch Stichwörter wie "Bagdadbahn" oder "Tsingtau" lassen sich in diesem Teil finden, wobei vielleicht eine andere Anordnung mancherorts treffender gewesen wäre. Warum etwa Stefanie Michels lesenswerter Beitrag "Der Askari" im Abschnitt "Institutionen" beheimatet ist - und nicht etwa unter "Akteure" - bleibt unklar. Dabei wäre dieser Aufsatz auch ein gutes Beispiel für den geforderten postkolonialen Perspektivwechsel: Anschaulich wird skizziert, wie komplex der Erinnerungsort "Askari" ist, da er quer zu dichotomen Wahrnehmungen des Kolonialismus sowohl in Deutschland als auch in Afrika steht.

Ein Abschnitt zu Akteuren (und einer Akteurin) des Kolonialismus wartet mit bekannten Namen wie Paul Lettow-Vorbeck oder Leo Frobenius auf. Abschnitt V, "Denkmäler", schließt den Sammelband ab. Dies ist insofern dramaturgisch stimmig, da die hier versammelten Aufsätze zu Kolonialdenkmälern, Straßenumbenennungen oder anthropologischen Sammlungen letztlich das heutige Unbehagen am kolonialen Erbe aufzeigen. Das 2010 in May-Ayim-Ufer umbenannte Berliner Gröbenufer und die teils hitzigen Reaktionen darauf zeigen, wie wenig homogen die Erinnerungen an den deutschen Kolonialismus sind. Etwas zu optimistisch und auch im Widerspruch zu vielen im vorliegenden Band angesprochenen Phänomenen erscheinen daher Jacob Emmanuel Mabes Reflexionen: Deutschland habe sich, so Mabe, "zu einer unverkennbar weltoffenen und reichhaltigen Kulturnation entwickelt, in der gebürtige und zugezogene Bürger aus fast allen Teilen der Welt aufeinandertreffen und lernen, miteinander rücksichtsvoll sowie demokratisch umzugehen" (487). Schließlich lassen sich auch im Sammelband selbst (etwa in der Einleitung) Hinweise auf hartnäckige kolonialistische oder rassistische Denkmuster in Deutschland finden.

"Kein Platz an der Sonne" ist ein wichtiges Buch zur Gedächtnisgeschichte Deutschlands. Vor allem der einleitende Aufsatz legt den Grundstein für eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus und seinen materiellen, politischen und mentalen Nachwehen. Einige Fragen bleiben dennoch offen und schaffen so die Möglichkeit für eine noch breitere Auseinandersetzung mit dem Thema. So konstatiert Zimmerer selbst, dass die Präsenz von nur zwei Frauen (May Ayim, Frieda von Bülow) "auffällig" sei (34), ohne indes weiter darauf einzugehen. Könnte man die Abwesenheit von Frauen auf Seite der Kolonialherren noch begründen [4], so lassen sich die millionenfachen, oft auch spezifisch weiblichen Erfahrungen mit diesen Kolonialherren nicht bestreiten. Ebenso ist zu bemängeln, dass nur vereinzelt zwischen den Erinnerungskulturen von Bundesrepublik und DDR unterschieden wird, hier könnte sicherlich noch etwas nachgeschärft werden. Dennoch handelt es sich beim vorliegenden Band um eine hervorragende Zusammenstellung, die äußerst lesenswert ist und eine Lücke in der bisherigen Forschung zur Gedächtnisgeschichte Deutschlands schließt.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Kornelia Kończal: Pierre Noras folgenreiches Konzept von les lieux de mémoire und seine Re-Interpretationen. Eine vergleichende Analyse, in: GWU 62 (2011) 1/2, 17-36; Pim den Boer u.a. (Hgg.): Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2012; Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hgg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Bd. 3: Parallelen, Paderborn, München u.a. 2012.

[2] Vgl. Etienne François / Hagen Schulze (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001.

[3] Vgl. z.B. Sebastian Conrad / Jürgen Osterhammel (Hgg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004; Helma Lutz / Kathrin Gawarecki (Hgg.): Kolonialismus und Erinnerungskultur. Die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft, Münster u.a. 2005.

[4] Vgl. hierzu allerdings Birthe Kundrus: Weiblicher Kulturimperialismus. Die imperialistischen Frauenverbände des Deutschen Kaiserreichs, in: Conrad / Osterhammel (Hgg.): Kaiserreich transnational, 213-235.

Ina Markova