Rezension über:

Hervé Oudart / Jean-Michel Picard / Joëlle Quaghebeur (éds.): Le Prince, son peuple et le bien commun. De l'Antiquité tardive à la fin du Moyen Âge (= Collection "Histoire"), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2013, 448 S., ISBN 978-2-7535-2197-1, EUR 22,00
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Rezension von:
Julian Führer
Deutsches Historisches Institut, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Julian Führer: Rezension von: Hervé Oudart / Jean-Michel Picard / Joëlle Quaghebeur (éds.): Le Prince, son peuple et le bien commun. De l'Antiquité tardive à la fin du Moyen Âge, Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 1 [15.01.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/01/23423.html


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Hervé Oudart / Jean-Michel Picard / Joëlle Quaghebeur (éds.): Le Prince, son peuple et le bien commun

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Die Vorstellung eines 'bien commun', also eines gemeinsamen Gutes, bezogen auf die Organisation eines Gemeinwesens, wird man zunächst eher im antiken oder neuzeitlichen Staatsdenken vermuten. Der vorliegende Sammelband geht der mittelalterlichen Aneignung solcher Konzepte nach. Nicht explizit deutlich gemacht wird der Umstand, dass es sich bei dem Band um das Ergebnis einer Konferenz von 2007 handelt, die zu Ehren von Olivier Guillot abgehalten wurde. Mehrere Themenblöcke werden durch einleitende Bemerkungen der Herausgeber eingerahmt. Man erkennt das sichtliche Bemühen, den Vorwurf einer Buchbindersynthese zu vermeiden.

Lesenswert ist der einleitende Beitrag von Hervé Oudart (Prince et principat durant l'Antiquité et le Moyen Âge: jalons historiographiques, 7-52), der die Leitfragen formuliert: Ist ein Weiterleben des römischen Prinzipats denkbar? Existiert im Mittelalter ein Konzept von moralischer und politischer Legitimation als Begründung des Prinzipats, gibt es die Idee, dass die Herrschaft des Fürsten dem Gemeinwohl dient? Ist das Volk im Mittelalter ein politischer Akteur? (7-8) Die letztlich moralisch begründete Unterscheidung zwischen dem legitimen princeps, der über souveräne Herrschaft (imperium bzw. potestas), aber auch auctoritas verfügt, und dem Tyrannen, der mangelnde auctoritas durch Gewalt ersetzt, findet ihre rechtliche Ausprägung in dem Gedanken, dass der princeps Ämter verleihen und entziehen kann, gleichzeitig aber die Gesetze zu beachten hat. Wenn sich nun etliche Termini aus diesen römisch-antiken Denkfiguren erhalten haben, stellt sich die Frage, inwieweit dem auch eine historische Realität in der Anwendung gegenübersteht. Die Forschungsgeschichte zu diesem Komplex wird anhand der Beiträge von Jacques Flach, Jan Dhondt, Walther Kienast, Karl Ferdinand Werner und Olivier Guillot in Erinnerung gerufen. Oudart diskutiert Quellenbelege aus der Antike, Forschungskontroversen wie die "mutation féodale" und national unterschiedliche Forschungstraditionen.

Wie bei wohl jedem Sammelband üblich, haben die folgenden Beiträge unterschiedliche Qualität und auch einen unterschiedlich deutlichen Bezug zum Thema des Bandes, wie es im Einleitungsaufsatz dargelegt wird. Mal wird eine Münzlegende der römischen Kaiserzeit untersucht (Jean-Pierre Martin, L'empereur et le bien commun: la securitas, 57-66), mal das Schreibprinzip des Ermoldus Nigellus rekapituliert (Jehanne Roul, La construction du récit d'Ermold le Noir dans un miroir des princes: l'exemple du baptême des Danois à Ingelheim, 85-96). Dass Reliquien die Fähigkeit zugeschrieben wurde, Orte oder Regionen zu schützen, ist als Erkenntnis nicht eben neu (Edina Bozoky, 203-215), andere Beiträge sind gewissermaßen Kurzfassungen von Monographien (Élisabeth Crouzet-Pavan, 375-392).

Deutlich einschlägiger ist die Befragung karolingerzeitlicher Fürstenspiegel auf das Verhältnis von Fürst und Volk (Alain Dubreucq, 97-114), die Analyse des politischen Liebesdiskurses im französischen Spätmittelalter (Lydwine Scordia, Le roi doit avoir le cœur de ses sujets: réflexions sur l'amour politique en France au XVe siècle, 145-158) und die Diskussion von Johannes' von Salisbury Policraticus (IV,1-2) durch Yves Sassier (125-144). In einem solchen Band ist es erstaunlich, dass Johannes nur in einem Beitrag im Zentrum steht und die reichhaltige Fürstenspiegelliteratur des Hoch- und Spätmittelalters ansonsten am Rande behandelt wird.

Terminologische Vorgehensweisen wie im Beitrag von Sassier finden sich auch in Urkundenstudien (Wendy Davies, The incidence of princeps in the ninth- and tenth-century charters of northern Spain, 217-232). Sowohl die Gewährleistung als auch die Missachtung des öffentlichen Interesses (üblicherweise physische und ökonomische Sicherheit) durch den Fürsten wird an Einzelbeispielen beleuchtet (Jean-Christophe Cassard über die Herzöge der Bretagne als Garanten des Schiffsverkehrs 275-296; Thierry Dutour über als ungerechtfertigt angesehene Steuererhebungen in der Normandie des 14. Jahrhunderts durch König Ludwig X. von Frankreich 349-373).

Der längste Beitrag des Bandes, abgesehen von der Einleitung, stammt vom Geehrten selbst (Olivier Guillot, Les rois mérovingiens et l'épiscopat au VIIe siècle, 165-201). Das bekannte Thema wird durch genaue Kontextualisierung der erzählenden und der diplomatischen Quellen tatsächlich dahingehend neu akzentuiert, dass seit dem Edictum Chlotharii von 614 bis zum Ende des 7. Jahrhunderts der merowingische König erhebliche Einwirkungsmöglichkeiten bei der Besetzung von Bischofsstühlen gehabt habe. Das Thema der Besetzung von Ämtern wird auch an anderer Stelle des Bandes für Byzanz in Augenschein genommen (Éric Limousin, 233-253).

Wie man mit Bildquellen nicht umgehen sollte, demonstriert Dominique Alibert (Le roi, son peuple et l'ordre du monde dans l'iconographie politique du haut Moyen Âge, 67-84): Dass das Bildprogramm des Thrones Karls des Kahlen diskutiert wird, ohne es abzubilden, ist schon kurios; eine Analyse des Codex Aureus von St. Emmeram (Clm 14000), einer prächtigen Handschrift von stattlichem Format (420x660 mm als Doppelseite), wird durch eine Abbildung von 78x110 mm Größe mit mangelnder Farbtiefe eher behindert. Die Frage, ob der Aufsatz durch Verweise auf Homer, Könige in Ruanda und das nordische Lied Heimskringla gewinnt (80), übersteigt den geistigen Horizont des Rezensenten.

In einem letzten Abschnitt des Bandes befassen sich mehrere Verfasser mit Regionen, die außerhalb römischer Traditionen lagen. Charles Doherty und Jean-Michel Picard behandeln beide das frühmittelalterliche Irland und damit notgedrungen weitgehend deckungsgleiche Quellenbestände, kommen aber durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen. Rory McTurk möchte im letzten thematischen Beitrag (La royauté scandinave à l'époque des Vikings, 421-430) eine Fortsetzung der Völsunga saga (Ragnars saga lodbrókar) als Quelle für gesellschaftliche Verhältnisse im mittelalterlichen Irland nutzbar machen und diagnostiziert einen Übergang von 'Volkskönigtum' zu 'Heerkönigtum' (so im französischen Original, 426).

Lästig sind die zahlreichen Druckfehler. Der Artikel "Fürstenspiegel" aus dem RAC (= Reallexikon für Antike und Christentum) wird der Rivista di Archeologia Cristiana zugewiesen (97). Der erfreulich preiswerte Band hätte durch inhaltliche Straffung und einen letzten fachlichen und sprachlichen Korrekturgang noch gewonnen, einzelne Aufsätze verdienen aber auf jeden Fall Beachtung.

Julian Führer