Rezension über:

Christian Kiening / Heinrich Adolf (Hgg.): Der absolute Film. Dokumente der Medienavantgarde (1912–1936), Zürich: Chronos Verlag 2012, 508 S., ISBN 978-3-0340-1025-2, EUR 55,50
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Rezension von:
Lars Blunck
Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Stefan Gronert
Empfohlene Zitierweise:
Lars Blunck: Rezension von: Christian Kiening / Heinrich Adolf (Hgg.): Der absolute Film. Dokumente der Medienavantgarde (1912–1936), Zürich: Chronos Verlag 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 12 [15.12.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/12/23993.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Christian Kiening / Heinrich Adolf (Hgg.): Der absolute Film

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Was war der absolute Film? Bis in die jüngste Zeit hat sich die verkürzte Antwort gehalten, dass die Bezeichnung "absoluter Film" synonym für den abstrakten Animationsfilm der 1920er-Jahre stehe. So hatte etwa Holger Wilmesmeier 1994 in seiner Dissertation den absoluten mit dem abstrakten Film identifiziert und die im Mai 1925 veranstaltete Matinee "Der absolute Film" (mit Filmen von Walter Ruttmann, Viking Eggeling, Hans Richter, aber eben auch von René Clair und Francis Picabia, Fernand Léger und Dudley Murphey sowie mit einem Lichtspiel von Ludwig Hirschfeld-Mack) als Höhepunkte und zugleich als "jähes Ende" [1] des absoluten Films ausgewiesen. Und noch R. Bruce Elder hat 2008 in seiner fulminanten Studie "Harmony + Dissent. Film and Avantgarde Art Movements in the Early Twentieth Century" den absoluten mit dem abstrakten Film gleich gesetzt. [2]

Tatsächlich war, wie die vorliegende, von Christian Kiening und Heinrich Adolf besorgte Quellensammlung beeindruckend aufweist, bereits in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren keineswegs unumstritten, was die Formel vom "absoluten Film" eigentlich bezeichnen sollte. Auf knapp 400 Seiten breitet die sorgfältig edierte Anthologie nun endlich den ungeheuren Facettenreichtum der Konzepte, Programme, theoretischen Grundlegungen und der Kritikpunkte der Medienavantgarde unter dem umbrella term "absoluter Film" aus. Sie erschließt somit, wie sehr sich Künstler und Kritiker (nicht nur, aber doch insbesondere in Deutschland) von den frühen 1910er- bis in die 1930er-Jahre hinein um die Etablierung von jener Form des "Lichtspiels" mühten, die jenseits damaliger filmindustrieller Produkte angesiedelt sein sollte - mit ganz unterschiedlichen ästhetischen und theoretischen Positionen. Zugleich ging es dabei immer auch um die Auslotung der Medienspezifik des Films, um den Einsatz von Licht und Bewegung und nicht zuletzt um die Erschließung des Films als Medium künstlerischer Gestaltung.

Nicht alle der insgesamt 58 Nummern mögen den Leser gleichermaßen fesseln. Immer wieder aber faszinieren die abgedruckten Dokumente, weil sich gerade an ihrer Heterogenität ablesen lässt, dass und in welcher Weise ihre Autoren um eine neue Kunst, um das Wesen des Films, um die Analogisierbarkeit des Visuellen mit dem Auditiven, um visuelle Bewegung, Zeit, das Absolute, um das Licht als Gestaltungsmittel und um vieles mehr rangen. Es ist dies ein imposanter Einblick in eine Zeit, in der Visionen und Utopien manchmal sogar die Vernunft und das Mach- und Gestaltbare zu übersteigen schienen.

Die naturgemäß unterschiedlich umfangreichen Quellenschriften sind durchgehend chronologisch geordnet, reichen mithin von Bruno Corras programmatischem Text zur "Chromatischen Musik" von 1912 (13-22) bis zu einem Abdruck der bislang so gut wie nicht greifbaren Dissertation "Das Lichtspiel" von Victor Schamoni aus dem Jahr 1936 (325-385). Natürlich kommen insbesondere die Protagonisten der Zeit wie Walter Ruttmann, Hans Richter, Lászlo Molohy-Nagy, Oskar Fischinger und Germaine Dulac einerseits und etwa Bernhard Diebold, Rudolf Arnheim, Ernst Kállai und Adolf Behne zu Wort. Der Band wartet aber auch mit echten Trouvaillen wie beispielsweise der Übersetzung der niederländischen Broschüre "Der absolute Film" von Menno ter Braak auf (259-292).

Gewiss, es lässt sich gegen jede Quellensammlung der Vorwurf erheben, dass dieser oder jener Text fehle oder ein anderer besser nicht hätte aufgenommen werden sollen, so vielleicht auch bei diesem Band. Frank Warschauers Klage in der "Weltbühne" im Jahr 1925 über die Profitorientierung der Filmindustrie und seine Kritik an der "Diktatur der gegenwärtigen Wirtschaftsform" [3] hätte sicherlich ihren Platz finden können; ebenso René Clairs prägnantes Statement "Rhythmus" vom April 1926 in der von Richter herausgegebenen Zeitschrift "G Material zur elementaren Gestaltung". [4] Eine solche Kritik aber wäre allzu wohlfeil und würde am berechtigten, ja richtigen Anliegen der Herausgeber vorbeigehen: Sie setzen ganz bewusst nicht auf Vollständigkeit sondern auf die Auswahl gerade auch entlegener, ja teilweise bislang überhaupt nicht greifbarer Texte. Es geht dem Band um Vielfalt, nicht um Fülle.

Wie aber steht es um Kommentare, die ja jede gute, zumindest kritische Edition aus den Niederungen des bloßen Sammelsuriums erheben? Auf den ersten Blick scheinen sie zu fehlen. Tatsächlich aber hält ein fast mehr als 130-seitiger Anhang nicht nur biobibliografische Informationen bereit, er umfasst auch einen Text der Herausgeber, der die möglicherweise vermissten Einführungen zu den einzelnen Quellenschriften problemlos ersetzt. Bescheiden - fast zu bescheiden - ordnen Kiening und Adolf ihr wirklich lesenswertes, tatsächlich ein wenig im Anhang verstecktes "Nachwort" den Quellenschriften buchstäblich nach. Es ist dies dann aber doch weit mehr als ein Nachwort. Denn die Herausgeber markieren hier in immerhin dreizehn Kapiteln und auf nicht weniger als 81 Seiten die wichtigsten Ereignisse und filmavantgardistischen Positionen der 1910er- bis 1930er-Jahre, ja sie zeichnen überdies die zentralen Diskurslinien der Zeit nach (das Absolute, Musikanalogie, Intermedialität etc.), ohne allerdings die abgedruckten Quellen interpretativ auszuschlachten und damit für eine weitere Exegese zu verschließen. Im Gegenteil, für den mit dem Gegenstand weniger vertrauten Leser werden hier Perspektiven geöffnet, die einen Zugang zu den Quellentexten allererst eröffnen, ohne die Lektüre unbotmäßig einzuschränken.

Kurz: Mit dieser Sammlung von "Dokumenten der Medienavantgarde" liegt ein fundierter, übersichtlich und einleuchtend zusammengestellter Band vor, den mit Gewinn und sogar Begeisterung derjenige lesen wird, der sich für die künstlerischen Avantgarden und / oder den Film des frühen 20. Jahrhunderts interessiert. Zukünftige filmwissenschaftliche und kunsthistorische Studien zu diesem Themenbereich werden an dieser Quellensammlung nicht vorbei kommen; sie hat das Zeug, zum Standardwerk der Film- und Kunstgeschichte der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts aufzusteigen.


Anmerkungen:

[1] Holger Wilmesmeier: Deutsche Avantgarde und Film. Die Filmmatinee 'Der absolute Film' (3. und 10. Mai 1925), Münster 1994, 1, 138.

[2] Vgl. R. Bruce Elder: Harmony + Dissent. Film Avantgarde Art Movements in the Early Twentieth Century, Waterloo 2009.

[3] Frank Warschauer: Der entfesselte Film, in: Die Weltbühne 21 (1925), Nr. 19, 717-718, hier 718.

[4] René Clair: Rhythmus, in: G Material zur elementaren Gestaltung 4 (1926), Nr. 5/6, 115.

Lars Blunck