Rezension über:

Rüdiger Wenzke: Ulbrichts Soldaten. Die Nationale Volksarmee 1956 bis 1971 (= Militärgeschichte der DDR; Bd. 22), Berlin: Ch. Links Verlag 2013, XI + 800 S., ISBN 978-3-86153-696-3, EUR 49,90
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Rezension von:
Christian Th. Müller
Universität Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Christian Th. Müller: Rezension von: Rüdiger Wenzke: Ulbrichts Soldaten. Die Nationale Volksarmee 1956 bis 1971, Berlin: Ch. Links Verlag 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/07/22941.html


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Rüdiger Wenzke: Ulbrichts Soldaten

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Im Mittelpunkt des neuen Werkes von Rüdiger Wenzke steht das ostdeutsche Militär als soziales Gebilde, mithin als Teil der DDR-Gesellschaft und als Lebenswelt mit spezifischen Regeln und soziokulturellen Praxen. Der Titel "Ulbrichts Soldaten" hat dabei einen doppelten Sinn. Einerseits unterstreicht er den uneingeschränkten Anspruch der SED und ihres Ersten Sekretärs auf die Kontrolle des Militärs im zweiten deutschen Staat. Andererseits lenkt er den Blick auf die Niederungen des Lebens in der Truppe. Hier an der Basis handelten die "einfachen" Soldaten als durchaus "eigen-sinnige" (Alf Lüdtke) Subjekte, die sich mit den politisch-ideologischen Vorgaben der Partei- und Politorgane nur sehr begrenzt identifizierten. So bestand zwischen den ideologisch überhöhten Vorstellungen der politischen bzw. militärischen Führung von einer "sozialistischen Armee" und dem Alltag der "real-existierenden" NVA-Angehörigen, vor allem der Wehrpflichtigen, eine letztlich unüberbrückbare Kluft. Der Band knüpft dabei an die bereits 2001 erschienen Geschichte der Kasernierten Volkspolizei an und verdeutlicht die in den letzten zwölf Jahren erzielten beträchtlichen Fortschritte bei der Erforschung der Militärgeschichte des SED-Staates.

Das Buch gliedert sich chronologisch in zwei Hauptteile, von denen sich der erste der Gründungs- und Aufbauphase des ostdeutschen Militärs von 1956 bis zum Mauerbau 1961 widmet, während der zweite die Ausbau- und Konsolidierungsphase von der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht Anfang 1962 bis zur Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker 1971 facettenreich ausleuchtet.

Zunächst rekapituliert der Autor die militärpolitischen Schritte zur Remilitarisierung der SBZ/DDR seit den späten 1940er Jahren, um dann das nähere Umfeld der NVA-Gründung 1956/57 auszuleuchten. Besonders aufschlussreich ist das dritte Kapitel über den Spagat der neuen Armee zwischen Wehrmachtserbe und Sowjetisierung. Sollte mit der Anknüpfung an traditionelle (Uni-)Formen die schwache Legitimation der "nationalen Streitkräfte" in der zunächst wenig wehrfreudigen DDR-Bevölkerung gestärkt werden, so wurde andererseits der Bruch mit den "imperialistischen" deutschen Streitkräften der Vergangenheit und der ideologische Anspruch eines radikal neuen "Klassencharakters" der NVA betont. Beides erwies sich als wenig überzeugend. Im Ausland war schon bald von einem "roten Militarismus" die Rede. Das war auch der frühen Personalpolitik geschuldet, in der ehemalige Wehrmachtangehörige eine unverzichtbare Rolle spielten. Allerdings wurden gerade ehemalige Offiziere der Wehrmacht stets argwöhnisch beäugt und sobald als möglich entlassen oder auf minder wichtige Positionen verschoben. Dabei spielte auch die Abgrenzung von der in der Propaganda als von "Nazi-Offizieren" geführten "Blank-Wehrmacht" (192) apostrophierten Bundeswehr eine wesentliche Rolle.

Zum Abschluss wendet sich Wenzke den problematischen Dienst-, Arbeits- und Lebensbedingungen und dem noch stark begrenzten Leistungsvermögen der jungen NVA zu. Detailliert schildert er die defizitäre Ausstattung mit Waffen und Ausrüstung sowie die auf einfache Lagen beschränkten Fähigkeiten der Truppen und Stäbe. Sein Urteil: "nur bedingt gefechtsbereit" (269).

Gegenüber dieser stringenten Darstellung der Streitkräfteentwicklung bis Ende 1961 stellen sich die 18 Kapitel des zweiten Teils eher als ein Kaleidoskop dar. Hier werden Aspekte der sowjetischen Militärstrategie, der SED-Sicherheitsarchitektur, der Allgemeinen Wehrpflicht, die Rolle gemeinsamer Truppenübungen im Bündnis, das Verhältnis von Kirche und Armee, Frauen und Männlichkeit im Militär, Tradition und Zeremoniell, das Verhältnis Walter Ulbrichts zur NVA, die Entwicklungsprobleme des "sozialistischen" Offizierkorps, die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Truppe, "besondere Vorkommnisse", die Rolle von Militärjustiz und Staatssicherheit als Repressionsmittel, die militärpolitische Propaganda, Wissenschaft und Wissenschaftsverständnis in den Streitkräften, die Widerspiegelung der NVA in Kunst und Literatur sowie Körperertüchtigung und Sport im Dienst der Landesverteidigung überblicksartig dargestellt. Am Ende stehen eine Bilanz der Konsolidierungsphase und ein Ausblick auf die weitere Entwicklung der NVA zu einer modern ausgestatteten und kampfstarken Koalitionsarmee in der Ära Honecker.

Der Facettenreichtum des zweiten Teils kann sowohl als Stärke wie auch als Schwäche interpretiert werden. Einerseits bietet Wenzke so hochinteressante Einblicke etwa in kaderpolitische Querelen oder die möglichen Abgründe vorgeblich "sozialistischer Beziehungen" in der Truppenpraxis. Ausführlich geht er auf die mit dem Alkoholkonsum in der Truppe zusammenhängenden Probleme ein oder schildert am Beispiel der Chemischen Kompanie der 9. Panzerdivision aus dem Jahr 1967, wie willkürlicher Gebrauch der Dienstgewalt von Offizieren und Unteroffizieren im Verein mit mangelhafter Dienstorganisation und Dienstaufsicht in ein wahres System von Schikanen und Disziplinverstößen unter Beteiligung aller Dienstgradgruppen münden konnte.

Andererseits drängt sich gerade bei manchen der knapp gehaltenen Kapitel etwa zu Tradition und Zeremoniell oder zu Frauen und Männlichkeit in der Truppe der Eindruck auf, dass diese vor allem der Vollständigkeit halber Aufnahme in den Band gefunden haben. Im Stil eines Handbuches werden hier Traditionsnamen und ausgewählte Orden aufgelistet, oder es gibt sehr allgemein gehaltene Ausführungen zur Kategorie Geschlecht im DDR-Militär. Hier wäre weniger wahrscheinlich mehr gewesen. So hätte mindestens die überfrachtete und unübersichtliche Kapitelstruktur des zweiten Teils entlastet und wesentlich stringenter gestaltet werden können.

Diese Kritikpunkte im Detail ändern jedoch nichts daran, dass der Autor eine daten- und faktengesättigte Studie auf der Höhe des Forschungsstandes vorgelegt hat. Zu den zahlreichen Tabellen und Grafiken im Text kommen zur weiteren Veranschaulichung ein umfangreicher Bildteil sowie Auszüge aus 18 Erinnerungsberichten von NVA-Angehörigen aller Dienstgradgruppen. Wer künftig zur Aufbau- und Konsolidierungsphase des ostdeutschen Militärs forscht, kommt an diesem Buch nicht vorbei.

Christian Th. Müller