Rezension über:

Daniel Gerster: Friedensdialoge im Kalten Krieg. Eine Geschichte der Katholiken in der Bundesrepublik 1957-1983 (= Campus Historische Studien; Bd. 65), Frankfurt/M.: Campus 2012, 375 S., ISBN 978-3-593-39737-5, EUR 39,90
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Rezension von:
Sebastian Kalden
Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Kalden: Rezension von: Daniel Gerster: Friedensdialoge im Kalten Krieg. Eine Geschichte der Katholiken in der Bundesrepublik 1957-1983, Frankfurt/M.: Campus 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 5 [15.05.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/05/22684.html


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Daniel Gerster: Friedensdialoge im Kalten Krieg

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Der Blick der zeitgeschichtlichen Forschung richtet sich in den letzten Jahren zunehmend auf die immer besser zu erschließende Geschichte der alten Bundesrepublik. Die Fragen um die Beziehungen zwischen Religion und Gesellschaft spielten dabei unter dem Vorzeichen von Säkularisierungsprozessen allerdings eine eher untergeordnete Rolle. Dabei lässt sich für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in Westeuropa beobachten, wie eng religiöse Überzeugungen im gesellschaftlichen Diskurs mit dem politischen Wirken verzahnt waren. Noch bis Mitte der 1980er Jahre war der Prozentsatz der Bundesbürger, die nicht den beiden christlichen Großkirchen in der Bundesrepublik angehörten, marginal. Umso wichtiger erscheint es, die religiösen Bezüge aus der westdeutschen Perspektive im Kalten Krieg zu untersuchen. Daniel Gerster ist in seiner Dissertation am Europäischen Hochschulinstitut Florenz jenen Fragen nachgegangen, die nach dem spezifisch katholische Beitrag in der Friedensdiskussion suchen - in einer Zeit von permanenter Bedrohung zwischen Ost und West.

Die Monographie beginnt mit dem Jahr 1957, in dem die Diskussion um die nukleare Aufrüstung der Bundeswehr begann, und endet 1983, dem Höhepunkt der Friedensdiskussionen in der Nuklearkrise, als sich auf den Straßen Westeuropas millionenfach der Protest gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen und der Cruise Missiles regte. Chronologisch folgen die drei Hauptkapitel wichtigen Wegmarken des Kalten Krieges. Der erste Abschnitt "Zögerliche Aufbrüche" (31) behandelt die katholische Rolle in den Kontroversen um Atomwaffen unter dem Einfluss innerkirchlicher Reformanstrengungen bis zum Zweiten Vatikanum. Unter dem Titel "Zahlreiche Umbrüche" (125) thematisiert der zweite Abschnitt die Friedensdialoge bezüglich des diskursdominierenden Vietnamkonflikts mit Beginn der US-Intervention 1965, anhand der Herausforderungen durch die Befreiungstheologie und vor der Folie des innerdeutschen Terrorismus. Die Studie schließt unter der Überschrift "Zaghafte Ausbrüche" (220) mit dem Entstehen der "neuen" Friedensbewegung zur Zeit der Diskussion um die Einführung der Neutronenbombe 1977 bis zum Herbst 1983, als der Bundestag die Stationierung der atomaren Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik beschloss.

Daniel Gersters Werk verortet sich im Kontext jüngerer Arbeiten, die sich ungeachtet der für Historiker üblichen Archivgrenze von 30 Jahren bis in die Mitte der 1980er Jahre bewegen und unter dem Label einer "erweiterten" oder "neuen Politikgeschichte" firmieren. Sie untersuchen neben diplomatiegeschichtlichen Perspektiven auch die soziopolitischen Rückbindungen der Ereignisse. Mit der Wahl eines diskursanalytischen Ansatzes will Daniel Gerster über eine rein deskriptive Perspektive der katholischen Debatten hinaus tiefergehende Zusammenhänge aufdecken. Die Diskursanalyse besteht in der semantischen Betrachtung der "Kontroversen", "Debatten", "Diskussionen" (13) als Objekte - wie das sich durchziehende Motiv von der Lehre des "gerechten Krieges" (bellum iustum) - mit den jeweils zeitlich gewandelten Zuschreibungen bezüglich der Begriffe "Krieg" und "Frieden" seitens der Katholiken, die Daniel Gerster als "Umcodierungen" versteht. Seine Quellen dafür bilden überwiegend öffentlich zugängliche Materialien, wie päpstliche Erklärungen, Zeitschriften oder Pressedokumente.

Eine der Stärken der Arbeit ist es, die verschiedenen Ebenen kirchlich-religiöser Diskussionen situativ abzubilden. Die römisch-katholische Amtshierarchie - und damit das impulsgebende und diskursprägende Element - wird stets mitgedacht, wenn es darum geht, wie generelle "Umcodierungen" katholischer Vorstellungen von kriegseinhegenden zu friedensfördernden Maßnahmen durch die päpstlichen und konziliaren Überlegungen vor 1965 mit der zunehmenden Betonung von Menschenrechten und Abrüstung erfolgten - was gerade die Minderheitenpositionen der bundesdeutschen Linkskatholiken unterstützte. Neben den Diskussionen auf der Amtsebene wird die Laienperspektive in der Betrachtung der Friedensbewegungen und ihrer institutionellen Form von Pax Christi untersucht. Die Auseinandersetzung zwischen Basis und Amtsebene dient Daniel Gerster als Gradmesser für das Spannungsverhältnis in den 1970er Jahren zwischen Demokratisierungsprozessen, die Raum ließen für eine katholische Öffnung zu mehr Beteiligung, und Verkirchlichungsprozessen, in denen die Amtskirche die Bindung an die Institution erhöhen wollte. Mit dem Blick auf die Stellung des Vatikans und auf das Geschehen in der Welt bettet die Arbeit dabei die bundesdeutschen Entwicklungen katholischer Friedensdialoge konsequent in ein transnationales Setting ein und vollzieht plausibel die Politisierungstendenzen der Katholiken in der Zuspitzung auf die Nuklearkrise hin.

An manchen Stellen nimmt der Autor die Forschungsdiskussion direkt in den Text auf und verortet seine Analyse entsprechend. Der Lesefluss gerät dadurch ein wenig ins Stocken; der eine oder andere Verweis auf die Forschung hätte ebenso gut in einer Fußnote Platz finden können. Der Autor bezieht dabei auch zu noch strittigen Punkten in der Historiographie klar Position und stellt beispielsweise die innerkatholischen Frontverläufe etwas vereinfacht dar, wenn er der "neuen" Friedensbewegung eine "Interkonfessionalität" (321) abspricht. Zugleich zeigt der Autor damit die Notwendigkeit weiterer Forschung auf.

Mit der Geschichte der katholischen Friedensdialoge in der Bundesrepublik von 1957 bis 1983 ist es Daniel Gerster insgesamt gelungen, eine tiefgehende und zugleich konzise sowie angenehm lesbare Untersuchung der Diskussion um Krieg und Frieden vorzulegen. Sie nimmt einen wichtigen Platz sowohl in der Profan- als auch in der Kirchengeschichtsschreibung dieser Epoche ein und stellt eine gute Grundlage für weitere Studien dar, die durch einen religiösen Bezug zum tieferen gesamtgesellschaftlichen Verständnis des Kalten Krieges führen.

Sebastian Kalden