Rezension über:

Felix Hasler: Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung (= XTEXTE), Bielefeld: transcript 2012, 260 S., ISBN 978-3-8376-1580-7, EUR 22,80
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Rezension von:
Daniel Graña-Behrens
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Daniel Graña-Behrens: Rezension von: Felix Hasler: Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld: transcript 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 5 [15.05.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/05/19359.html


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Felix Hasler: Neuromythologie

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In diesem Buch wird der Mythos der Überbewertung neurologischer Ergebnisse als Ansatzpunkt für das Verstehen menschlicher Handlungen, von Persönlichkeit und psychologischer Krankheitsbilder behandelt. Die vorgetragene Skepsis ist die zentrale These des Werkes und der Untertitel ist insofern richtig gewählt. Jedoch wird die Deutungsmacht der Hirnforschung vorrangig in der populärwissenschaftlichen Behandlung des Themas (z.B. Darstellung in den Medien) und in der pharmazeutischen Vermarktung (Psychopharmaka) thematisiert.

Kapitel 1 benennt die Themenbereiche der Skepsis gegenüber der Neuro-Hysterie, die als Resultat einer euphorischen Überbewertung neurologischer Forschungsergebnisse zu verstehen ist: die Darstellung in den Medien, die Transformation anderer Wissenschaftsdisziplinen und die Vermarktung von neuartigen Arzneimitteln. Kapitel 2 kritisiert die Vorstellung von der Allmacht bildgebender Verfahren zur unstrittigen Bewertung und Interpretation von Hirnaktivitäten und ihrer Korrelation mit menschlichen Verhalten. Auch werden technische Verfahren erörtert und kritisiert, mit Hilfe derer Unzulänglichkeiten oder Messungenauigkeiten korrigiert werden sollen, z.B. durch das sogenannte Differenz-Verfahren (47f.). Kapitel 3 behandelt die Auswirkungen der Neuro-Hysterie auf andere Wissenschaftsdisziplinen, einschließlich der daraus resultierenden philosophischen Leitbilder. An die Stelle der Gene treten die Neuronen, so ließe sich kurz fassen mit entsprechend weitreichenden Interpretationen der elektrochemischen Prozesse in Bezug auf Bewusstsein, Seele oder gar Tod. Auch verrücken neurologische Modelle das Selbstbild und schaffen die Grundlage dafür, dass selbst Teenager heute wissen was Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätsstörung sind (63). Kapitel 4 vertieft das Thema um das menschliche Bewusstsein aus neurologischer Sicht. Insbesondere wird hier der reduktionistische Ansatz kritisiert, Bewusstsein bzw. das als Leib-Seele bekannte Problem ausschließlich über die Hirnaktivität zu erklären anstatt über einen dualistischen Standpunkt, der den menschlichen Körper mit berücksichtigt (73).

Kapitel 5 darf als wichtigster Abschnitt angesehen werden. Dies nicht nur aufgrund des deutlich gesteigerten Umfangs gegenüber den anderen Kapiteln von nahezu ein Drittel der Buchlänge, sondern vor allem, weil hier das Fachwissen des Autors - einem Pharmakologen - bei der Entwicklung und Anwendung neuartiger Pharmaka zur Behandlung psychischer Störungen über die neurologische Schiene durchscheint. Die Zusammenführung von Neurologie und Psychologie wird dabei über den Trend der "molekularen Psychiatrie" gesehen, die für das Verständnis psychischer Störungen von molekulargenetischen und zellbiologischen Ansätzen ausgeht (83). An die Stelle von Familie und Umwelt tritt das Gehirn (82). Vor allem aber lässt der Autor keinen Zweifel daran, dass es mehr als fragwürdig erscheint, aufgrund der ungeheuren Komplexität des Gehirns, psychische Störungen über einige wenige biochemische Prozesse, die zum Fehlverhalten führen, erklären und behandeln zu wollen (133). Im Besonderen werden die anfänglich eher zufälligen Erfolgsgeschichten der pharmazeutischen Industrie bei der Behandlung psychologischer Auffälligkeiten skizziert (z.B. der Wirkstoff Chlorpromazin, 91ff.) und die seit den 1960er Jahren resultierende ganz gezielte Entwicklung und Vermarktung (z.B. Librium, 94ff.), ja sogar bewusste Erschaffung von ebensolchen Krankheitsbildern (z.B. Depression, 115ff.) kritisiert. Letzter Punkt ist eine interessante These, insofern eine psychische Krankheit anscheinend auch passend zu einem zu einem bereits bestehenden Medikament propagiert werden kann (120). Dadurch wird der scheinheilige Prozess der pharmazeutischen Industrie bei der Herstellung von Medikamenten analog zum kritisierten Bildgebungsverfahren der Neurologie als Evidenznachweis empirischer Befunde gesetzt. Wie der Autor vermerkt hat dies zur Folge, dass nicht einzig schwerwiegende psychische Störungen medikamentös behandelt werden, sondern man heutzutage auch bei leichteren Fällen verstärkt auf Psychopharmaka setzt (126). Entsprechend wird der Vorwurf an die pharmazeutische Industrie erhoben werbetechnisch nicht nur geschickt neue Produkte über die neurologische Schiene zu vermarkten, sondern Testergebnisse passend zu beschönigen oder sogar zu manipulieren (wie im Fall der Firma Lilly bei Prozac, 101ff.). In diesem Zusammenhang wird vom Autor sogleich die wissenschaftliche Ethik hinterfragt, wenn Studienergebnisse von der pharmazeutischen Industrie beauftragt, finanziert und in angesehenen Fachmagazinen unter Weglassung der Nennung der eigentlich Beteiligten oder sogar über Ghostwriter publiziert werden (107ff.). Welche Folgen diese Entwicklung einschließlich der weltweit gigantischen Vermarktung aller Arten von Psychopharmaka haben kann drückt sich auch in der Frage aus, ob die Gesellschaft immer gestörter wird, sich also über die Therapie quasi erst selbst eine Krankheit erschafft (122). Das Gehirn wird dann sogar zum Politikum, wenn es um Fragen der Hypersensibilität oder Kriminalität geht (154ff.).

Kapitel 6 verlagert die Frage der Einnahme von Psychopharmaka von der Behandlung einer psychologischen Störung auf die von der Gesellschaft zunehmend geforderte psychischen Stärke und Leistungsbereitschaft. Der Autor nennt es Hirndoping (177). Kapitel 7 geht der Frage nach dem Verbleib des freien Willens nach, wenn das Gehirn bzw. die elektrochemische Reaktion dies bereits längst autonom entschieden hat. Der vermeintlich weiteren Demontage des "Mythos Willensfreiheit" wird nach einem namhaften Vertreter der entsprechenden Experimente entgegengehalten, dass die Willensfreiheit über das Prinzip des Vetos verbleibt (192). Kapitel 8 verweist auf bisherige neurologische Ergebnisse was Psychopathen wie Mörder oder Terroristen betrifft (200ff.). Kapitel 9 hinterfragt, inwiefern über die neuen neurologischen Kenntnisse und unter Zuhilfenahme bildgebender Verfahren, menschliche Wahrheit oder Lüge festgestellt werden kann. Aber man ahnt es schon und ist dennoch erstaunt: selbst Neurologen sehen nur unter idealen Laborbedingungen eine Möglichkeit Lüge und Wahrheit aus Gehirnaktivierungsmustern halbwegs herauszulesen (218). Kapitel 10 resümiert die Skepsis von der Deutungshoheit der Neurologie und als Letztbegründungsinstanz, die ganze Welt erklären zu wollen (225). Stattdessen ermahnt der Autor die Wissenschaftsanthropologen, den Neurologen bei seinen Untersuchungen über die Schulter zu schauen und die Erkenntnisse der Neurologie für das soziale Leben auszuleuchten (229f.). Schließlich wird noch die Inszenierung von neurologischer Forschung in TV-Wissenschaftsdokumentationen gerügt und die unbeantwortet gebliebene Frage aufgeworfen, ob die Vertreter der neurologischen Zunft, von denen viele eigentlich seriöse Wissenschaft betreiben und keineswegs beabsichtigen, die ganze Welt zu erklären (8), die weiter steigende Kritik an der Neurologie selbst wahrnehmen (233).

Die Sprache des Autors ist direkt, süffisant, zuweilen aber etwas polemisch. Dies drückt sich teilweise in reißerischen Überschriften aus ("Mehr Astrologie als Wissenschaft" 23, "Cyber-Phrenologie" 25, "Neuro-Sexismus" 27) als auch in manchen Stellungnahmen ("Mit der brachialen Rechengewalt von Supercomputer wird sich das Rätsel Gehirn wohl lösen lassen, so das offensichtliche Rezept [...]", 33). Als Streitschrift hätte man sich da manchmal ein ausgewogeneres Wort und in Abkehr des vom Autor angemahnten Wissenschaftspopulismus, eine selbstauferlegte Zurückhaltung gewünscht, auch wenn sich gerade dadurch das Buch besonders gut liest.

Daniel Graña-Behrens