Rezension über:

Jirko Krauß: Ländlicher Alltag und Konflikt in der späten Frühen Neuzeit. Lebenswelt erzgebirgischer Rittergutsdörfer im Spiegel der kursächsischen Bauernunruhen 1790 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 1091), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2012, 520 S., ISBN 978-3-631-63223-9, EUR 79,80
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Rezension von:
Josef Grulich / Markéta Skořepová
Institute of History, University of South Bohemia, České Budějovice
Redaktionelle Betreuung:
Paul Friedl / Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Josef Grulich / Markéta Skořepová: Rezension von: Jirko Krauß: Ländlicher Alltag und Konflikt in der späten Frühen Neuzeit. Lebenswelt erzgebirgischer Rittergutsdörfer im Spiegel der kursächsischen Bauernunruhen 1790, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 4 [15.04.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/04/21949.html


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Jirko Krauß: Ländlicher Alltag und Konflikt in der späten Frühen Neuzeit

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Frühneuzeitliche Aufstände der Untertanen gehören zu den beliebten Themen der historischen Forschung. Jirko Krauß hat für seine Untersuchung einen nicht zu groß dimensionierten Aufstand ausgewählt, der sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1790 im sächsischen Kurfürstentum ausbreitete. Er knüpft so an ältere, positivistische und marxistische Studien zu diesem Gegenstand an, den er aber ganz neu und mit Hilfe aktueller Forschungsmethoden bearbeitet.

Der eigentlichen Beschreibung des Aufstandsverlaufs widmet der Autor keine große Aufmerksamkeit. Die Ereignisse, zu denen es in den sieben erforschten Herrschaften kam, dienen ihm als "Schlüsselloch", das ihm einen Blick in die Welt der Menschen auf dem Land am Ende der frühen Neuzeit ermöglicht. Obwohl der Aufstand 1790 keine allzu großen Dimensionen erreichte, sich auf wenige Orte beschränkte, keine Todesopfer forderte, keine exemplarischen Strafen oder bedeutsamere Reformen nach sich zog und nach ein paar Monaten endete, bietet er der Forschung einen Spiegel dar, in dem sich das Alltagsleben, die zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Kommunikationsweisen in der ländlichen Gesellschaft abbilden.

Jirko Krauß wendet bei der Suche nach den methodologischen Ausgangspunkten konsequent eine interdisziplinäre Zugangsweise an. Er wurde von den klassischen Werken der deutschen Mikrogeschichte inspiriert, die einen verkleinerten Maßstab der Beobachtung mit der Verankerung der erforschten Problematik in einem breiteren Kontext sowie mit soziologischen Handlungstheorien verbinden. In der vorgelegten Studie werden die methodologischen Ausgangspunkte der historischen Anthropologie systematisch ausgenutzt, die das Individuum als Akteur sowie als Mitschöpfer des Geschichtsprozesses wahrnehmen. Als Ausgangspunkt der Forschung dienen vor allem schriftlich formulierte Forderungen der aufständischen Untertanen, die daran anknüpfende Korrespondenz der Obrigkeit und Behörden und die Protokolle des folgenden Gerichtsprozesses gegen die "Anführer" des Aufstandes.

Die Arbeit ist in fünf Abschnitte gegliedert, die einzelne Aspekte beschreiben, die mit Ursachen, Entwicklung und Höhepunkt des Aufstandes zusammenhängen. Der erste Teil des Buches schildert die wirtschaftliche sowie soziale Lage in der untersuchten Region, die seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges eine sehr rasche Entwicklung durchmachte, was zur Veränderung der sozialen Struktur und der Beziehungen zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen führte. Es zeigt sich, dass Menschen ohne größeren Grundbesitz einen Großteil der Einwohnerschaft ausmachten - im Gegensatz zu den sonst üblichen Verhältnissen in der "Dorfgemeinde" aber eine vergleichbare Stellung wie die Besitzer der landwirtschaftlichen Anwesen genossen. Dem entsprach auch ihre Rolle im Aufstand von 1790.

Zu dessen unmittelbarer Ursache wurde die wachsende Not wegen der wiederholten Missernten, die alle Bevölkerungsschichten betraf und am Ende des Sommers 1790 ihren Höhepunkt erreichte. Den Verlauf der Ereignisse in einzelnen Herrschaften beschreibt das zweite Kapitel. Obwohl die Unruhen ähnliche Ursachen und Verläufe hatten, kam es nicht zu ihrer gegenseitigen Verknüpfung. In keinem Gebiet eskalierte die Situation so weit, dass es zu Gewalttaten kam; die Aufstände hatten keine feste Organisation und keine klare ideologische Begründung. Die versammelten Untertanen versuchten üblicherweise nach der Ablehnung der bisherigen Untertanenpflichten ihre Forderungen direkt der Obrigkeit vorzutragen und sie dann in einer schriftlichen Supplik an den Kurfürsten in Dresden zu formulieren. Nach einigen Wochen beruhigte sich die Situation, und die Untertanen kehrten unter demonstrativer Präsenz des Militärs zum Gehorsam zurück.

Die einzelnen Aspekte des kollektiven Verhaltens und Handelns sowie die Instrumente und Formen der (häufig nur symbolischen) Kommunikation der Aufstandsakteure analysiert der dritte Teil des Buches anhand soziologischer Modelle. Den wahrscheinlich interessantesten Teil der Publikation stellt das folgende Kapitel dar, das den Akteuren des Aufstandes selbst gewidmet ist. Jirko Krauß beschäftigt sich hier sowohl mit einzelnen Gruppen als auch mit konkreten Personen und ihren Rollen während der Unruhen. Ein besonderer Ertrag dieses Buches liegt darin, dass der Autor die Aufstandsakteure nicht als isolierte Interessengruppen wahrnimmt, sondern in ihrer gegenseitigen Interaktion. Er zeigt, dass es im Kontext der Untertanenproteste nicht um einen Streit zweier völlig unterschiedlicher und unversöhnlicher Parteien ging, also einer geschlossenen und homogenen Masse der Untertanen einerseits und einer nicht weniger homogenen Schicht der Obrigkeit andererseits. Zwischen den einfachen Dorfbewohnern und ihrem Herrn stand nämlich eine verhältnismäßig große Gruppe von Vertretern der Dorf- und Herrschaftsverwaltung. Als vierte Gruppe traten darüber hinaus noch die Vertreter der Staatsmacht auf, an die - von Soldaten über Beamte bis hin zum Kurfürsten selbst - sich die Suppliken der Untertanen richteten. Alle Teilnehmer brachten ihre eigenen etablierten Handlungs- und Verhaltensmodelle, ihre Vorstellungen sowie spezifische Formen der Kommunikation ins Geschehen ein.

Der Schlussteil des Buches untersucht, basierend auf der Textanalyse der erhaltenen Dokumente, ausführlich die Ursachen, Bedeutungen und Folgen der Unruhen. Er widmet sich ausführlich den Argumentationen und Forderungen der Untertanen sowie den Gegenargumenten der Obrigkeit und den Beschlüssen der Staatsbeamten. Hier könnte man den einzigen bedeutsameren kritischen Vorwurf gegen diese Arbeit erheben: Bei der Analyse der Suppliken der Untertanen ignoriert der Autor im Grunde die Frage, inwiefern die angeheuerten Advokaten, die sie verfassten, ihren Inhalt und ihren Tonfall bestimmten oder ob die Eingaben von den Untertanen selbst "diktiert" wurden. Der Anteil der authentischen Vorstellungen in den Texten der Suppliken und das Ausmaß des rechtlichen Bewusstseins der Dorfbewohner bleiben also weiterhin unklar.

Doch trotz dieser kritischen Bemerkung stellt die Studie einen besonders gelungenen Beitrag zur Kenntnis des Alltags der Dorfbewohner in der Schlussphase der frühen Neuzeit dar. Sie bietet einen komplexen Blick auf die Ereignisse des Untertanenaufstands, die sorgfältig in der damaligen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung verortet werden. Die Handlungen der Aufstandsakteure werden aus der Perspektive der damaligen Mentalität, des Habitus und der Normen des Benehmens von einzelnen sozialen Schichten analysiert. Gleichzeitig widmet der Autor den individuellen Gründen und Handlungen genug Raum. Das Buch von Jirko Krauß liefert ein kompaktes, methodologisch durchdachtes Bild des Alltags auf dem Land im Kontext der außergewöhnlichen und dramatischen Ereignisse eines Untertanenaufstands. Gleichzeitig bringt es aber auch interessante und oft überraschende Details, die die Individualität der Personen sowie die besonderen und außergewöhnlichen Aspekte in den scheinbar so vorhersagbaren und üblichen Situationen in der Geschichte auf dem Land aufzeigen.

Josef Grulich / Markéta Skořepová