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Daniel Trachsler: Bundesrat Max Petitpierre. Schweizerische Aussenpolitik im Kalten Krieg 1945-1961, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2011, 459 S., ISBN 978-3-03823-670-2, EUR 47,00
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Rezension von:
Georg Kreis
Universität Basel
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Georg Kreis: Rezension von: Daniel Trachsler: Bundesrat Max Petitpierre. Schweizerische Aussenpolitik im Kalten Krieg 1945-1961, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 4 [15.04.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/04/21257.html


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Daniel Trachsler: Bundesrat Max Petitpierre

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Mit Politikgestaltung ist mehr gemeint als individuelles Reagieren in Einzelfällen, nämlich das Entwickeln und Verfolgen eines möglichst kohärenten Konzepts unter Ausnützung bestehender Handlungsspielräume. Dieses Verständnis liegt auch der jüngsten historisch-politologischen Studie zu Max Petitpierre (1899-1994) zugrunde, zu einem Magistraten, der in den Jahren 1945 bis 1961 als Mitglied der Schweizer Regierung Hauptverantwortlicher für die Gestaltung der Außenpolitik dieses Landes war. Der charismatisch begabte Politiker von der Freisinnig-Demokratischen Partei stieg als Neuling in die Außenpolitik ein, und dies in der schwierigen unmittelbaren Nachkriegsära, als die Neutralitätspolitik der Schweiz wegen ihren ökonomischen Beziehungen zu NS-Deutschland bei den Siegermächten in hohem Maße als kompromittiert galt.

Daniel Trachsler geht der Frage nach, inwiefern Petitpierre die außenpolitische Konzeption und Praxis geprägt und wie sich sein Handlungsspielraum verändert hat. Dabei ergibt sich der widersprüchliche Befund, dass Petitpierre in der ersten Hälfte seiner Amtstätigkeit als außenpolitischer "Novize" durchaus gestaltend, in der zweiten Hälfte als erfahrener Außenpolitiker dagegen mehrheitlich nur noch verwaltend tätig gewesen ist. Dieser paradoxe Befund erklärt sich aus verschiedenen Umständen: Zum einen erlaubten die spezifischen Herausforderungen der ersten Phase, insbesondere die Bereinigung der Beziehungen zu den USA und der UdSSR, ein formatierendes Gestalten. Zum anderen traten in der zweiten Phase im Regierungsapparat Gegenkräfte auf, welche Petitpierres Handlungsspielräume einschränkten. Im Weiteren wurde Petitpierre immer mehr der Gefangene seiner eigenen Doktrinen. Die letzten beiden Punkte erklären sich in hohem Maße aus Petitpierres Persönlichkeit und lassen sich mit dem vom Autor teilweise gewählten biografischen Ansatz erfassen.

Trachsler reflektiert diesen Ansatz in seiner Einleitung und meint, mittlerweile sei die Bedeutung der strukturellen Rahmenbedingungen derart unbestritten, dass die Gefahr einer Überbewertung des individuellen Einflusses nicht mehr bestehe. Das politologische Interesse des Verfassers gewährleistet die angemessene Berücksichtigung auch der Rahmenbedingungen. Trachsler verfolgt in seiner Abhandlung konsequent und systematisch die Haltungen des Protagonisten in den drei Hauptbereichen Europapolitik, UNO-Politik und Entwicklungspolitik, was - ganz am Rande - auch seine Haltung zum einsetzenden Dekolonisationsprozess einschließt.

Trachsler zeigt deutlich, wie sehr der schweizerische Außenminister von der Mehrheitsmeinung der Kollegialregierung abhängig war. Er zeigt aber nicht, was unter dem biografischen Aspekt von Interesse gewesen wäre, ob Petitpierre so in die anderen Departements hineinregierte, wie deren Chefs es umgekehrt bei seinem Departement taten. Petitpierre nahm im Bundesrat bezüglich der Neutralitätsdoktrin die liberalste Haltung ein, aber schon in Kommissionssitzungen mit Parlamentariern begnügte er sich zum Beispiel 1950, bloß rhetorisch die Frage aufzuwerfen, ob die Schweiz abseits bleiben könne, wenn es um die Rettung der Zivilisation gehe, der sie doch angehöre (175). Bedenkenswert sind sodann die Ausführungen zum "Neutralitäts-Chauvinismus", was ein interessanter Neologismus ist und eine abwertende Haltung gegenüber den Neutralitätsauffassungen anderer Staaten bedeutet (214).

Eine besondere Kritik an Petitpierres Politik betraf die "zweigleisige Kommunikation": nach innen eher offen und nüchtern, nach außen in der Sache zurückhaltend, aber die Sonderfallideologie bekräftigend. Trachsler meint dazu: Petitpierres Auftritte in der Öffentlichkeit seien "von einer gewissen Skepsis gegenüber dem außenpolitischen Urteilsvermögen der breiten Bevölkerung" bestimmt gewesen (53). Dies habe kurzfristig Vorteile in Form von Handlungsspielräumen gebracht, sich langfristig aber als "Bumerang" erwiesen, weil damit die Gelegenheit zu einer Relativierung seiner selbstbezogenen Mentalität verpasst wurde (90, 352).

Als Quellen dienten dieser Studie Petitpierres zeitgenössische Äußerungen (interne Schreiben, Stellungnahmen im Parlament wie auch öffentliche Vorträge) sowie die nach seinem Rücktritt entstandenen Fragmente mit Rechtfertigungscharakter. Es gehörte zur Ambivalenz des Biografierten, dass er sich auch diesbezüglich um Zurückhaltung bemühte, aber die Geschichtsschreibung doch mit steuernden Impulsen versah und insbesondere das Deutungsfeld nicht einfach einem seiner stärksten Gegenspieler, dem Tagebuch schreibenden Bundesrat Markus Feldmann, überließ. Dies geschah, obwohl er gegenüber der Geschichtsschreibung gewisse Vorbehalte hegte und selbstverständlich seine eigene Wahrnehmung für zutreffender hielt: "L'image que donne l'histoire des événements n'est pas toujours conforme à ce qui s'est réellement passé." (346) Unter Petitpierres gedruckten Schriften (439) müsste auch die unter dem Herausgeber Louis-Edouard Roulet aufgeführte Schrift von 1980 (450) genannt werden, ist doch darin ein großer Teil der "pages de mémoire" (immerhin 275 Seiten) veröffentlicht.

Trachsler ist mit seinem biografischen Zugang bestrebt, die Haltungen des Biografierten zu verstehen und bis zu einem gewissen Grad auch zu rechtfertigen. Er nimmt aber zu seiner Hauptperson eine bemerkenswert kritische Haltung ein und kommt zu erfrischenden Urteilen. So weist der Autor darauf hin, dass es in der Ära Petitpierre zu einer drastischen Kompetenzverschiebung zugunsten des Volkswirtschaftsdepartements auf Kosten des Departements für Auswärtige Beziehungen - und damit auch zum Nachteil der politischen Positionierung der Schweiz in Europa - gekommen ist und Petitpierres es wirklich versäumt hat, sich dagegen zu wehren (226, 240, 322). "Europapolitik ohne Außenminister" überschreibt der Verfasser treffend das die späten 1950er Jahre betreffende Kapitel und zitiert ausführlich ein Protestschreiben Petitpierres von 1958 - das dieser bezeichnenderweise aber nie abschickte (257). Es ist schwer verständlich, dass Petitpierre mit dem Bericht einer Arbeitsgruppe, die ihm den Rücken stärkte, 1959 nicht in den Bundesrat ging. Jene Gruppe hatte sogar Vor- und Nachteile eines EWG-Beitritts zu prüfen und kam zum Ergebnis, dass die Zugehörigkeit zu einem supranationalen Organ "an sich" nicht unannehmbar sei (308).

Die Wiederherstellung der Beziehungen zur Sowjetunion 1946 war gewiss ein Erfolg, vielleicht sogar eine "Meisterprüfung" des frisch gebackenen Außenministers; sie wird - nicht wirklich einleuchtend - als "gelungener Coup" bezeichnet (67) und entsprach dem Bestreben nach Universalität, einem in der Analyse ansonsten wenig angesprochenen Prinzip, das ebenfalls zu den Maximen der Petitpierre'schen Außenpolitik gehörte. Erwartungsgemäß spielte die Neutralitätsmaxime in der Formulierung der schweizerischen Außenpolitik jener Jahre eine wichtige Rolle. Überraschend ist aber, wie groß vor allem bei Petitpierre 1948 die Bereitschaft war, die Neutralität zu Gunsten einer solidarischen Kooperation mit dem Westen aufzugeben (121 ff). Das Wort "Solidarität", das eigentlich eine unterstützende Haltung meint, bedeutete hier vor allem ein Dabeisein-Wollen. Wie begrenzt jedoch trotz allem auch bei Petitpierre die Solidaritätsmaxime war, zeigt die eindrückliche Feststellung, mit der er im Januar 1953 ein Fernbleiben vom europäischen Vergemeinschaftungsprojekt begründete: "Nous devons avouer que nous sommes egoistes et expliquer que nous avons le droit de l'être." (223)

Das Buch gibt einen thematischen Überblick über die schweizerische Außenpolitik der Jahre 1945 bis 1961, es zeigt die Positionierung der Schweiz in der ersten Phase des Kalten Kriegs. Es bietet aber auch einen Einblick in die internen Prozesse der Politikgestaltung und gibt Aufschlüsse über die Handlungsspielräume des hauptverantwortlichen Magistraten.

Georg Kreis