Rezension über:

Sophie Collin Bouffier: Diodore d'Agyrion et l'histoire de la Sicile (= Dialogues d'histoire ancienne; Supplément 6), Besançon: Presses Universitaires de Franche-Comté 2011, 230 S., ISBN 978-2-8486-7411-7, EUR 21,00
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Rezension von:
Martin Dreher
Institut für Geschichte, Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Martin Dreher: Rezension von: Sophie Collin Bouffier: Diodore d'Agyrion et l'histoire de la Sicile, Besançon: Presses Universitaires de Franche-Comté 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 1 [15.01.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/01/21514.html


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Sophie Collin Bouffier: Diodore d'Agyrion et l'histoire de la Sicile

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Der Band publiziert sieben Vorträge, die französische und italienische Historiker, Archäologen, Philologen und Kunsthistoriker auf einer Tagung im April 2009 in Lyon gehalten haben. Die Herausgeberin begründet in ihrer Einleitung die Themenwahl damit, dass Diodor, unsere wichtigste Quelle für weite Strecken der sizilischen Geschichte, in der Forschung nur geringe Beachtung (faible considération) finde. Auf welchen möglichen Vergleichen diese Einschätzung beruht, bleibt unausgesprochen, sie wird jedoch angesichts der recht üppig sprudelnden, auch auf den folgenden Seiten der Einleitung gewürdigten [1] und in den Literaturverzeichnissen der Beiträge dokumentierten Forschungsliteratur zu Diodor sicher nicht allseits geteilt werden.

Collin Bouffier bemerkt weiterhin, dass der früheren abwertenden Einstufung Diodors als puren Kompilators bereits ausreichend widersprochen worden sei, sodass eine Rehabilitierung nicht mehr nötig sei. Seine Bedeutung für die sizilische Geschichte im Gesamtrahmen der griechischen Geschichte müsse jedoch stärker gewürdigt werden. Daher wollten die Beiträge nicht so sehr, wie die bisherige Forschung, den Vorlagen Diodors nachspüren, sondern den Blick des Autors auf seine Heimat Sizilien in den Mittelpunkt stellen.

Der Band ist in zwei ungleich lange Teile geteilt. Der erste Teil befasst sich mit Diodor und seiner historischen Methode. Die beiden Beiträge, die ihn bilden, haben gemeinsam, dass sie Diodors Umgang mit der Mythologie in ihre Darlegungen einbeziehen und in die Wertvorstellungen Diodors einordnen. Pascale Giovannelli-Jouanna zeigt, wie Diodor sizilische Personen aus Mythologie und Geschichte (u.a. Herakles, Daedalus; Gelon, Agathokles) als Vorbilder (oder Gegenbilder) für seine moralischen Vorstellungen von Geschichte präsentiert. Außerdem arbeitet der Autor heraus, dass die Passagen über Sizilien, in denen zahlreiche Belege für den Patriotismus des Verfassers aufgezeigt werden, eine andere Struktur aufwiesen als die übrigen, Griechenland und Rom betreffenden Abschnitte.

Nach Renaud Robert ist Daedalus für Diodor die wichtigste der mythischen und historischen Figuren, welche die materielle Entwicklung der Insel geprägt haben. Seine architektonischen Leistungen hätten diejenigen der späteren Regenten wie Dionysios' I., Timoleons, Agathokles' und Hierons (im Resümee doppelt ungenau als "rois de Sicile" zusammengefasst), vorweggenommen. Diodor sei, so Robert, nicht an der Kunst an sich interessiert, sondern ordne auch sie in seine moralischen Werte ein, indem er gerade die Ambiguität von Luxusobjekten hervorhebe, die negative Charaktere, gerade auch unter Herrschern, zur blinden Habgier veranließen.

Die fünf Aufsätze des zweiten Teils des Bandes behandeln die sizilische Geschichte bei Diodor. Die ersten beiden Beiträge gelten der Geschichte der sizilischen Griechen (Sikelioten) im 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. Sophie Collin Bouffier erkennt in Diodors Darstellung des Zeitraums zwischen der Schlacht bei Himera (480 v.Chr.) und der Tyrannis des Dionysios (405 v.Chr.) zwei kontrastierende Merkmale. Einerseits werde die ökonomische und gesellschaftliche Situation der sizilischen Poleis nahezu als Paradies auf Erden verherrlicht, dem Collin Bouffier die Ergebnisse der modernen Archäologie entgegenhält. [2] Andererseits berichte der Historiker von schweren Konflikten gerade mit barbarischen Völkern, durch die er die vorbildliche griechische Identität gefährdet sehe.

Den gefährlichsten Feind, mit dem sich die Sikelioten dauerhaft auseinanderzusetzen hatten, nämlich die Karthager, nimmt Nicola Cusumano in den Blick, konzentriert sich dabei aber auf die Phase der intensiven Kämpfe am Ende des 5. und Anfang des 4. Jahrhunderts v.Chr. Speziell in der Beschreibung der Belagerungen von Selinunt (409 v.Chr.) und Motye (398/7 v.Chr.) stelle Diodor die Karthager als typischen und grausamen Feind der Griechen dar. Durch die Schilderung des gegenseitigen Hasses trete die Beziehung zwischen kultureller Identität und Alterität sowie zwischen Reziprozität und Asymmetrie deutlich hervor.

Die folgenden zwei Beiträge des zweiten Teils befassen sich direkt mit der nichtgriechischen Bevölkerung der Insel. Damit nehmen sie, wie die Einleitung hervorhebt, eine Tendenz der jüngeren Forschung auf, die nicht nur Sizilien betrifft, nämlich die traditionell hellenozentrische Sicht durch einen unvoreingenommenen Blick auf die nichtgriechischen Völker zu ersetzen, soweit unsere literarischen (eben griechischen) und archäologischen Quellen das zulassen.

Aude Cohen-Skalli arbeitet heraus, dass Diodor die beiden elymischen Städte Segesta und Eryx auch für die klassische Zeit aus deren späterer Entwicklung bis ins 1. Jahrhundert v.Chr. heraus darstellt. Sandra Péré-Nogués würdigt, dass ausschließlich Diodor den "Eintritt der Sikeler in die Geschichte" in der Mitte des 5. Jahrhunderts v.Chr. festhalte. Die Episode sei vor allem deshalb in Diodors Werk aufgenommen worden, weil der Ort Palike und der Heros Duketios im kulturellen Gedächtnis (der Terminus wird von der Autorin jedoch nicht direkt benutzt) Siziliens verankert gewesen seien.

Im letzten und längsten Beitrag (171-226) des Bandes stellt Sylvie Pittia eine große Zahl von wichtigen Äußerungen Diodors über die gesamte Zeit der römischen Republik zusammen, konzentriert sich dann aber auf die Themen Pyrrhos in Sizilien, die Herrschaft Hierons II., die Punischen Kriege und die Sklavenkriege. Sie analysiert sowohl Diodors eigene Methode der Geschichtsschreibung als auch diejenige der byzantinischen Exzerptoren, denen wir die Fragmente aus Diodors Werk verdanken.

Die Beiträge des Bandes bringen, gerade aufgrund ihrer verschiedenen disziplinären Perspektiven, originelle, weiterführende und anregende Überlegungen in die Forschungsdiskussion über Diodor ein. Die Konzentration auf die sizilische Mythologie und Geschichte sowie einige gemeinsame thematische Kernfragen verknüpfen die Beiträge inhaltlich.

Leider lassen Lektorierung und Ausstattung des Bandes zu wünschen übrig: Die Texte enthalten manchen störenden Schreibfehler; die Abkürzungen und die Zitierweise der Quellen, namentlich Diodors selbst, sind uneinheitlich, einmal fehlt die Angabe zur zitierten Passage (95); die Bibliografien der Beiträge enthalten viele Überschneidungen; vor allem sind keine Register beigegeben worden.

Andererseits schließt das Buch mit (im Inhaltsverzeichnis nicht angekündigten) Zusammenfassungen aller Beiträge in französischer und in englischer Sprache (227-230).


Anmerkungen:

[1] Erwähnt sei hier zusätzlich das umfangreiche Projekt eines "Commento storico alla 'Biblioteca' di Diodoro", das eine Gruppe von italienischen Wissenschaftlern initiiert hat. Kürzlich erschienen ist der Band von G. Mariotta und A. Magnelli zum vierten Buch Diodors.

[2] Im Überblick über die Surveys der einzelnen Territorien (89f.) fehlt ein Hinweis auf J. Bergemann / U.W. Gans: Der Bochumer Gela-Survey. Vorbericht über die Kampagnen von 2002-2004, MDAI(R) 111, 2004, 437-476. Inzwischen ist erschienen J. Bergemann: Il Gela-Survey: 3000 anni di insediamenti e storia nella Sicilia centro meridionale, Sicilia antiqua 8, 2011, 63-100.

Martin Dreher