Empfohlene Zitierweise:

Stephan Conermann: Islamische Welten. Einführung, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 10 [15.10.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/10/forum/islamische-welten-166/

Bitte geben Sie beim Zitieren dieses Textes die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Islamische Welten

Einführung

Von Stephan Conermann

In diesem FORUM wird wieder einmal eine ganze Reihe von für die Islamwissenschaft wichtigen Themen angesprochen. Angesichts der aktuellen Diskussionen um salafistische Bewegungen in Deutschland stößt man in allen Medien unvermeidlich auf das Reizwort "Jihad". (Thema 1) Abhandlungen darüber gibt es zahlreiche, doch scheint es mir ganz sinnvoll zu sein, den interessierten Lesern einmal einige wichtige Originaltexte in Form von kommentierten Übersetzungen an die Hand zu geben. Rüdiger Lohlker hat in diesem Sinne offenbar ganz hilfreiche Materialien zusammengetragen. (Schüller über Lohlker). Angesichts der ziemlich unverhohlenen israelischen Kriegsdrohungen gegen den Iran bleibt Persien ebenfalls im Fokus des öffentlichen Interesses. (Thema 2) Viele Historiker blicken auf die Historie dieses Landes im 19. und 20. Jahrhundert durch das Prisma der konstitutionellen Revolution des Jahres 1906. Das Bemühen, die Qajarenzeit als vor-konstitutionelle Ära und die Epoche danach als einen permanenten Kampf um die Etablierung demokratischer Strukturen zu lesen, findet sich in zahlreichen Werken zur jüngeren Geschichte des Landes. Die Forscher, die sich in dieses Fahrwasser begeben, laufen jedoch Gefahr, die Komplexität historischer Prozesse zu ignorieren. (Schüller über Azimi) Aber nicht nur die islamischen "Kernländer" sind für uns interessant. Auch der Islam in den USA (Thema 3) ist facettenreich und vielfältig. Eine Ikone ist der afro-amerikanische Aktivist und Bürgerrechtler Malcolm X (1925-1965), der eigentlich Malcolm Little hieß und sich nach seiner Pilgerfahrt nach Mekka im Jahre 1964 El Hajj Malik el-Shabazz nannte. Endlich liegt eine monumentale Biographie dieses Mannes vor, die gleichzeitig eine Einführung in die Geschichte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und der damit eng verbundenen "Nation of Islam" darstellt. (Kulke über Marable)

Die sogenannte "islamische" Kunstgeschichte (Thema 4) gibt es in Deutschland nur noch an sehr wenigen Universitäten (u.a. in Bonn, Bamberg und München). Für das Fach wird es lebenswichtig sein, den Anschluss an die in den Geisteswissenschaften seit einigen Jahren spürbare kulturwissenschaftliche Neuorientierung nicht zu verpassen. Dies gilt insbesondere für die historisch ausgerichtete Forschung. Wie schwierig das sein kann, zeigt ein ansonsten sehr zu begrüßender Band zur mamlukenzeitlichen Kunst- und Architekturgeschichte - der erste seit 1984! (Kühn über Behrens-Abouseif) Aber wo wir gerade bei "Wenden" sind: Auch der "Spatial Turn" hat mittlerweile in der Islamwissenschaft Einzug gehalten. (Thema 5) In diesem Zusammenhang ist vor einiger Zeit ein Band zu "Grenzen" in Asien entstanden, der zu dem dann doch überraschenden Ergebnis kommt, dass weder die "westlichen" Konzepte von Globalisierung und "Free World" noch das islamische Konzept der Umma von der "Aufhebung" der Nationalstaaten in einer grenzenlosen Gemeinschaft der muslimischen Gläubigen zu einem global zu konstituierenden Bedeutungsverlust von Grenzen geführt haben. (Aengenvoort über Schetter / Conermann / Kuzmits). Eng mit der "Raumwende" verknüpft sind die konzeptionellen Ansätze der "entangled history" und der "histoire croisée". (Thema 6) Verflechtungsgeschichten standen im Mittelpunkt des Schwerpunktprogramms 1173 über "Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter" (Laufzeit: 2005-2011). Obgleich es sehr sinnvoll gewesen ist, die starren Grenzen der auf Europa gerichteten Mediävistik durch die Aufgabe einer geradlinig aufwärts verlaufenden Entwicklungslinie aufzulösen und transdisziplinäre und transkulturelle Ansätze aufzugreifen und in der gemeinsamen Arbeit umzusetzen, fehlt es dem aus einer Halbzeitkonferenz (2008) hervorgegangenen Sammelband ein wenig an theoretischer und konzeptioneller Kohärenz. (Conermann über Borgolte / Schneidmüller) Als geradezu klassische Interaktionsräume können Anatolien und der Balkan bis hinauf nach Ungarn bezeichnet werden. In der Regel haben wir es bei der historischen Erforschung dieser Regionen immer noch mit einer national orientierten Historiographie zu tun. Dies spürt man vor allem im Falle Ungarns, wo die osmanische Herrschaft gerne geflissentlich übergangen oder als dunkler Fleck in der eigenen Geschichte abgetan wird. Umso erfreulicher daher, dass nun eine sehr gute Monographie über das 17. Jahrhundert vorliegt. (Conermann über Koller) Unübersichtlich und von den Quellen her nur überaus schwierig zu fassen präsentiert sich ebenfalls die Region, die als "Anatolien" bezeichnet wird. Insbesondere die Phase der kulturellen Transformation vom 13. bis zum 15. Jahrhundert bereitet immense Probleme der Dekodierung. Eine ausgezeichnete neuere Studie hat nun die hybriden lebensweltlichen Verhältnisse innerhalb des multikulturellen Kontextes Kleinasien in der genannten Zeitspanne zum Gegenstand, wobei die Quellen in erster Linie auf die inhärenten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster des Eigenen und Fremden untersucht werden. (Purnaqcheband über Küçükhüseyin). Auch Reisen haben ja durchaus etwas mit Räumen zu tun. Als eine willkommene, da offensichtlich leicht zu lesende und einfach zu analysierende Quellengattung, gelten Reiseberichte. (Thema 7) Leider erweisen sich diese Texte bei genauerem Hinsehen dann als sehr schwer zu interpretieren, wenn man sich erst einmal davon befreit hat, in ihnen Anzeichen für eine Aneignung europäischer Vorstellungen und Konzepte oder das Fehlen individueller Neugierde entdecken zu wollen. In einer wegweisenden Publikation können die beiden Verfasser zeigen, dass zumindest im mogulzeitlichen Indien eine geradezu als "frühneuzeitlich" zu nennende kulturelle Neugierde gegenüber anderen, nicht-islamischen Kulturen weit verbreitet war. Damit hinterfragen sie die gängige Behauptung, es seien alleine Europäer gewesen, die individuell reisten, deren Staaten expandierten und welche somit entscheidend zur Geschichte der Globalisierung beitrugen. (Kulke über Alam / Subrahmanyam) Da man auch qajarische Fahrtenbücher nur dann für lesenswert hielt, wenn in ihnen auswertbare Informationen über Europa und die Zurückgebliebenheit der "Orientalen" vorhanden waren, war es längst an der Zeit, den daraus resultierenden Textkanon einer gründlichen Revision zu unterziehen. Anhand von vier gut ausgewählten Berichten hat eine amerikanische Historikerin nun einen ersten Schritt in diese Richtung hat. (Conermann über Sohrabi)

Ich wünsche allen viel Erkenntnisgewinn mit diesem neuen FORUM "Islamische Welten"!

Rezensionen