Rezension über:

Jan Musekamp: Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005 (= Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt; Bd. 27), Wiesbaden: Harrassowitz 2010, 423 S., 9 s/w-Fotos, ISBN 978-3-447-06273-2, EUR 28,00
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Rezension von:
Jens Boysen
Deutsches Historisches Institut, Warschau
Empfohlene Zitierweise:
Jens Boysen: Rezension von: Jan Musekamp: Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von 1945 bis 2005, Wiesbaden: Harrassowitz 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 10 [15.10.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/10/20580.html


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Jan Musekamp: Zwischen Stettin und Szczecin

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Der Autor präsentiert eine "Biographie" der pommerschen Hauptstadt seit 1945, d.h. beginnend mit dem epochalen Einschnitt ihrer kriegsbedingten Abtretung durch Deutschland an Polen und der in den Folgejahren durchgeführten Vertreibung der noch verbliebenen deutschen Bevölkerung. Ihm geht es darum, die weitere Entwicklung Stettins multiperspektivisch nachzuzeichnen, wobei deutlich wird, welch mannigfaltige administrative und planerische, siedlungspolitische und nicht zuletzt mentale Probleme damit verbunden waren, aus einer deutschen eine polnische Stadt zu machen.

Diesen komplexen und langwierigen Prozess beleuchtet Musekamp auf einer reichen Quellen- und Literaturbasis - vor allem polnischen Akten der lokalen, Wojewodschafts- und nationalen Ebene, der zeitgenössischen Presse, Memoiren sowie wissenschaftspolitischen und städteplanerischen Schriften. Dabei "arbeitet" er sich von den politischen und physisch-topographischen Rahmenbedingungen über die Aspekte des Städtebaus, der Ansiedlung, der (Re-)Organisation des öffentlichen Lebens bis zur geistigen, kulturellen und emotionalen Aneignung der zunächst fremden Stadt durch die neuen Bewohner "hinauf". Ihm gelingt eine anschauliche Rekonstruktion jener "Metamorphosen" mitsamt der ihnen innewohnenden Schwierigkeiten, die nach der Vertreibung der letzten Deutschen und dem Abzug der Sowjetarmee innerpolnische waren. Auf allen Gebieten zeigten sich trotz der stets beschworenen "nationalen Mission" Interessenkonflikte und konzeptionelle Differenzen.

Ein langwieriges Problem war die Gewinnung neuer Bewohner. Die aus Zentralpolen stammenden Neubürger schreckten angesichts der schwierigen Bedingungen häufig vor einer vollständigen Übersiedlung zurück und pendelten zwischen Stettin und ihren Herkunftsorten. Da die aus den kresy vertriebenen "Repatrianten" (und die zwangsumgesiedelten Ukrainer) diese Möglichkeit nicht hatten, bildeten sie ein zwar stabileres Element der neuen Bevölkerung, das allerdings nur wenig dem von den Behörden gehegten Wunsch nach einer städtischen Bevölkerung entsprach. Denn nur diese konnte das in einer modernen Großstadt benötigte Berufsspektrum abdecken und kulturell ein genuin städtisches Milieu bilden. Da bürgerliche Eliten in Polen - zumal nach den großen Verlusten während des Krieges - ein seltenes und daher kostbares Gut waren, zog Stettin im Wettbewerb um deren Reste oft gegen die attraktiveren Konkurrentinnen Danzig, Breslau und Warschau den Kürzeren.

Der Autor zeigt, wie wichtig für die neue polnische Herrschaft neben materiellen Anreizen und administrativen Maßnahmen das Bemühen war, die neuen Bewohner zum Ausbilden geistig-seelischer Wurzeln zu bewegen. Von zentraler Bedeutung war hier (mindestens) bis 1989 die mythopoetische Begründung der sogenannten "Repolonisierung" Stettins als Teil der "wiedergewonnenen piastischen Gebiete". Auch wenn die Genese dieses Ideologems im Buch nur angerissen werden kann, wird sein Einfluss auf die städtische Politik ebenso sichtbar wie sein instrumenteller Einsatz im Ringen verschiedener staatlicher Stellen um Ressourcen und Deutungshoheit. Zugleich wird deutlich, dass es letztlich vor allem die praktischen Bedingungen im Alltagsleben waren, die über die Fähigkeit zur Einwurzelung in dem fremden Boden entschieden. Daher konnte langfristig keine Politik der totalen Negation des deutschen Kulturerbes zum Ziel führen, sondern nur eine solche der Umdeutung bzw. Anerkennung und bewussten Aneignung.

Letzteres zeigte sich besonders deutlich an den Themen des Städtebaus und der Denkmalpolitik. Wie viele Städte Nachkriegseuropas bot das stark zerstörte Stettin den polnischen Stadtplanern im Prinzip unterschiedliche Möglichkeiten für die Rekonstruktion des Stadtbildes. Neben die allgemeine Tendenz einer Modernisierung trat in den neuen polnischen Westgebieten der Anspruch, deren angeblich "urpolnischen" Charakter städtebaulich wiederherzustellen. Angesichts des in Stettin - im Unterschied zu Danzig und Breslau - praktisch völligen Fehlens einer polnischen Vorgeschichte boten sich als einzige Ansatzpunkte die Beanspruchung der westslawisch-pommerschen Geschichte als "polnisch", die Gleichsetzung der Übernahme der Stadt durch Preußen 1720 mit ihrer "Germanisierung" und die Bevorzugung aller vorpreußischen Baustile, insbesondere der Gotik, beim Wiederaufbau der Stadt. Weitere bewusstseinsprägende Aktionsfelder waren der Umgang mit deutschen Denkmälern bzw. den von diesen hinterlassenen Leerstellen und die Umbenennung von Straßennamen; auch hier war die Entwicklung widersprüchlicher als ein schlicht "nationaler" Blick vermuten lassen würde.

Ausdruck einer ebenso gedächtnis- wie machtpolitischen Rivalität zwischen Warschau und Stettin war das Nebeneinander des nationalen "piastischen" Erinnerungsmythos' und desjenigen der pommerschen Greifenherzöge. Letzterer war nicht nur historisch besser belegbar, sondern diente zugleich der Gestaltung einer kollektiven Identität, die vor allem landesgeschichtlich begründet war. Somit erlaubte er nicht nur eine Dezentralisierung des kollektiven Gedächtnisses, sondern entschärfte teilweise auch den 'Erinnerungskrieg' mit den deutschen Stettinern, da hier unterhalb der nationalen Ebene gemeinsame lokal-regionale Erinnerungselemente genutzt werden konnten.

Durch den weiten zeitlichen Betrachtungsrahmen von Kriegsende bis praktisch in die Gegenwart (Stichjahr 2005) verteilen sich die Gewichte in diesem Buch etwas anders als in Gregor Thums Studie zu Breslau [1], zu der wichtige Parallelen bestehen und auf die sich Musekamp mehrfach explizit bezieht. Als eine Folge davon nimmt der Aspekt von Flucht und Vertreibung nur einen relativ kleinen Raum ein, was man aus deutscher Sicht bedauern mag, was sich aber durch die Anlage der Arbeit rechtfertigt. Außerdem nennt der Autor die Vertreibung ohne Beschönigung beim Namen und referiert konzise die entsprechende Diskussion; hier wie für andere Themen, die für das Buch nicht zentral sind und daher nur gestreift werden können, belegt er überzeugend seine Kenntnis des Kontexts und liefert dem Leser nützliche Anknüpfungspunkte.

Einer der wenigen anzuführenden Kritikpunkte, der allerdings eher ein ästhetisches Detail darstellt, ist die an mehreren Stellen ohne Anführungszeichen vorgenommene Übernahme der polnischen Formel von der "Befreiung" Stettins 1945, die suggerieren sollte, die Stadt sei schon zuvor polnisch gewesen. Da der Autor gerade dies in seinem Buch mehrfach ausdrücklich widerlegt, handelt es sich hier offensichtlich um ein rein pragmatisches Vorgehen, um den Lesefluss nicht zu stören.

Im Ergebnis liegt eine Stadtgeschichte vor, die trotz ihrer Datenfülle und der Verflechtung vielfältiger Betrachtungsebenen stets gut lesbar ist und der es gelingt, das Nachkriegsschicksal Stettins als work in progress unter dem Einwirken mannigfaltiger Faktoren zu zeigen. Zugleich wird am Beispiel der polnischen - und teils auch der deutschen - Stettiner die Wandelbarkeit des kollektiven Gedächtnisses sichtbar, d.h. die Fähigkeit und Bereitschaft, das Bild von der eigenen Heimat und damit von sich selbst zu verändern, sei es zum Errichten eines geistig-politischen Bollwerks, sei es zum Zweck einer zukunftsfähigen Entwicklung in Kooperation mit den Nachbarn. Freilich bestätigt die Arbeit auch, dass eine vollständige Kongruenz zweier um denselben historischen Raum rivalisierender nationaler Gedächtnisse letztlich nicht möglich ist.


Anmerkung:

[1] Gregor Thum: Die fremde Stadt. Breslau 1945, München 2003.

Jens Boysen