Rezension über:

Helga Schultz / Angelika Harre (Hgg.): Bauerngesellschaften auf dem Weg in die Moderne. Agrarismus in Ostmitteleuropa 1880 bis 1960 (= Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas; 19), Wiesbaden: Harrassowitz 2010, 296 S., ISBN 978-3-447-06272-5, EUR 46,00
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Rezension von:
Klaus Richter
Deutsches Historisches Institut, Warschau
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Richter: Rezension von: Helga Schultz / Angelika Harre (Hgg.): Bauerngesellschaften auf dem Weg in die Moderne. Agrarismus in Ostmitteleuropa 1880 bis 1960, Wiesbaden: Harrassowitz 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 9 [15.09.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/09/22120.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Helga Schultz / Angelika Harre (Hgg.): Bauerngesellschaften auf dem Weg in die Moderne

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Die Bauernschaft machte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Ostmitteleuropa den mit Abstand größten Teil der Bevölkerung aus. Ihre politische Bedeutung ist aber in der geschichtswissenschaftlichen Forschung lange vernachlässigt worden. Insofern schließt der vorliegende Sammelband zur Trägerschaft und Ideologie des Agrarismus in Ostmitteleuropa eine spürbare Lücke. Hervorgegangen ist er aus einem von der Volkswagenstiftung geförderten und an der Universität Viadrina angesiedelten Forschungsprojekt sowie einer im April 2009 durchgeführten Tagung. In ihrem Vorwort begründet Projektleiterin Helga Schultz die Relevanz des Themas mit der zentralen Rolle des Agrarismus für die politischen und ökonomischen Entwicklungen im östlichen Europa, wo er ein "alternativer Modernisierungsdiskurs" (10) geworden und mit der Hoffnung eines "dritten Weges" zwischen Kapitalismus und Kommunismus verbunden worden sei. Der wirtschafts- und sozialgeschichtlich angelegte Band beinhaltet neben Länderstudien zahlreiche vergleichende Untersuchungen, die die regional unterschiedlichen Ausprägungen des Agrarismus betonen - von einer sozialrevolutionären, populistischen Bewegung in Südost- und Osteuropa hin zu einer konservativeren Ausprägung in der Tschechoslowakei und in Polen.

Historische Relevanz besitzt der Agrarismus jedoch auch, weil seine Vertreter in einigen Staaten Ostmitteleuropas die Trägerschicht der autoritären Regime der Zwischenkriegszeit bildeten. Entsprechend kritisiert Angela Harre, dass die Bauernparteien Ostmitteleuropas in der Forschung zumeist "uneingeschränkt als demokratisch beschrieben" (25) worden seien. Der Schwenk der anfänglich demokratisch ausgerichteten Bauernparteien hin zum Autoritarismus der späten Zwischenkriegszeit, so ihre These, könnte "mit dem Grad der relativen Rückständigkeit der einzelnen Länder" zusammenhängen (36). Diesen Faktor betont auch Bogdan Murgescu in seiner Untersuchung des unterschiedlichen politischen Erfolgs von Akteuren des rumänischen, kroatischen, tschechischen und bulgarischen Agrarismus.

Besondere Aufmerksamkeit wird den Bauernbewegungen und dem Agrarismus in Bulgarien gewidmet, wo unter dem Ministerpräsidenten und Vorsitzenden des Bauernvolksbundes, Aleksandar Stambolijski, der Agrarismus besonders politikprägend (Roman Holec) und das ländliche Genossenschaftswesen seit der osmanischen Herrschaft bis weit in den Kommunismus hinein von einem subversiven Potenzial geprägt war (Klaus Roth, Petăr Roth). Bezüglich der Tschechoslowakei und Polen stellt Ernst Bruckmüller fest, dass die Integration der ländlichen Bevölkerung in die tschechische Nationalbewegung bereits abgeschlossen war, bevor sich Agrarparteien gründeten, während die Integration der Bauern in die polnische Nation erst das Ergebnis ihrer politischen Mobilisierung gewesen sei. Miroslav Hroch begründet diese Diskrepanz vor allem damit, dass der Klassengegensatz zwischen Adel und Bauern, die - im Gegensatz zu den böhmischen Ländern - dieselbe Muttersprache hatten, "national desintegrierend" (98) gewirkt habe. Włodzimierz Mędrzecki beschäftigt sich mit der Rolle des 1926 durch Józef Piłsudski gestürzten polnischen Premierministers Wincenty Witos, der die soziale und politische Emanzipation der Bauern entscheidend vorangetrieben hatte, sein Hauptziel, die Errichtung eines Staates mit gleichberechtigten Bauern, jedoch verfehlte. Eine höhere Bedeutung für den polnischen Agrarismus als Witos weist Tadeusz Janicki daher überzeugend dem Landjugendbund Wici zu, der sich als Gegengewicht zu der Sanacja-Herrschaft etablierte.

Im "Sonderfall" Ungarn, so Zsombor Bódy, habe hingegen der Agrarismus in der Zwischenkriegszeit vor allem deswegen kaum eine Rolle gespielt, weil staatliche Institutionen gezielt die "Entpolitisierung durch Verdrängung der sozialen Konfliktfragen aus dem öffentlichen Wahrnehmungsraum" (116) betrieben. Laut András Vari hatten jedoch die ländlichen Genossenschaften ab den 1880er Jahren als Sozialisationsraum für die Abgeordneten der Kleinbauernpartei nach dem Ersten Weltkrieg eine große Bedeutung.

Einen zeitlichen Ausblick liefert Nigel Swain, der den auch unter kommunistischer Herrschaft fortbestehenden Einfluss agraristischer Politik beschreibt - zumindest in den Ländern, die sich von der Kollektivierung Stalinscher Prägung verabschiedeten und Großbauern integrierten. Besonders interessant sind die Artikel, die den Agrarismus in globaler Perspektive untersuchen. Eduard Kubů und Jiří Šouša untersuchen die analog zur Kommunistischen Internationalen konzipierte Bauernorganisation Wiener Grüne Internationale. Joseph L. Love vergleicht die agraristischen Diskurse und sozialen sowie wirtschaftlichen Entwicklungen Rumäniens in der Zwischenkriegszeit mit denen im Brasilien der 1970er und 1980er Jahre am Beispiel der Rezeption Karls Kautskys und Aleksandr Čajanovs. Alexander Nützenadel stellt bezüglich der agraristischen Ideologien in den autoritär-faschistischen Diktaturen in Italien, Portugal und Spanien in der Zwischenkriegszeit fest, dass diese keineswegs lediglich "Ausweis einer besonders rückwärtsgewandten Wirtschafts- und Sozialpolitik" gewesen seien, sondern vielmehr selbst ein "Produkt der europäischen Moderne" (280, 285).

Drei der gelungensten Beiträge lassen zugleich einen Schwachpunkt des Bandes erkennen. Michael Hughes, Christa Ebert und Anca Cogîltan zeigen anhand von Untersuchungen zum Bild der Bauern in Kunst und Literatur überzeugend, dass die Bauernschaft Sozialrevolutionären und Nationalisten zumeist als reine Projektionsfläche diente. Ein Problem stellt diese Erkenntnis insbesondere für die Studien dar, die sich mit den Anfängen des Agrarismus und seinen Verbindungen zu den Nationalbewegungen beschäftigen. Sie leiden unter einem sehr schematischen Nationalismuskonzept, das den Eindruck entstehen lässt, die Agrarbewegungen hätten in den untersuchten Ländern zwangsläufig ähnliche Entwicklungen durchgemacht - nur eben zeitversetzt. Die Berücksichtigung neuerer Ansätze in der Nationalismusforschung, die das Werben um die Loyalität von Bevölkerungsgruppen betonen und die Nation nicht als teleologisches, sondern als "kontingentes Ereignis" [1] begreifen, hätte Fragestellungen zugelassen, die sich dem Thema des Agrarismus auch aus der Perspektive derer nähern, in deren Namen die Agraristen zu sprechen vorgaben - der Bauern. Denn wo lag eigentlich das Bindeglied zwischen Agraristen und Bauernschaft?

Das im Vorwort formulierte Verständnis von Ostmitteleuropa als einem "'Zwischeneuropa', ein weiter Übergangsraum zwischen dem westlichen Europa und dem russischen Osten" (11), scheint bisweilen den Blick auf die Besonderheiten der Region zu verstellen. Die Sprachenvielfalt und die unklaren Siedlungsgrenzen an der "language frontier" hätten beispielsweise eine Untersuchung von integrativen Strategien der agraristischen Bewegungen lohnenswert erscheinen lassen. Auch die zentrale Rolle der Judenfeindschaft im ländlichen Genossenschaftswesen wird nur am Rande erwähnt.

Für die Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas - insbesondere in der Zwischenkriegszeit - bedeuten die Beiträge dieses Sammelbandes zweifellos einen bedeutenden Schritt nach vorn. Insbesondere die vergleichend angelegten Studien lassen überzeugend deutlich werden, wie sehr die Offenheit und das demokratische Verständnis agraristischer Parteien vom politischen und wirtschaftlichen Erfolg abhingen. Aufgrund der genannten Kritikpunkte bleibt jedoch ein durchwachsener Eindruck bestehen.


Anmerkungen:

[1] Rogers Brubaker: Nationalism Reframed. Nationhood and the National Question in the New Europa, 7th ed., Cambridge 2004, 13.

[2] Pieter M. Judson: Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge 2006.

Klaus Richter