Rezension über:

Robert W. Hefner (ed.): Muslims and Modernity. Culture and Society since 1800 (= The New Cambridge History of Islam; Vol. 6), Cambridge: Cambridge University Press 2010, XX + 759 S., ISBN 978-0-521-84443-7, GBP 125,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Johanna Pink
Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Jens Scheiner
Empfohlene Zitierweise:
Johanna Pink: Rezension von: Robert W. Hefner (ed.): Muslims and Modernity. Culture and Society since 1800, Cambridge: Cambridge University Press 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 7/8 [15.07.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/07/22051.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Robert W. Hefner (ed.): Muslims and Modernity. Culture and Society since 1800

Textgröße: A A A

Während der fünfte Band der New Cambridge History of Islam weitgehend der Ereignisgeschichte gewidmet war, hat sich der sechste Band die ambitionierte Aufgabe gestellt, einen Überblick über die muslimische Kultur und Gesellschaft der vergangenen 200 Jahre zu geben. Es ist wohl kaum möglich, diese beiden Bände gesondert voneinander zu lesen, denn ohne die Kenntnis grundlegender historisch-politischer Vorgänge in der islamischen Welt ist die Entwicklung religiöser Ideen kaum zu verstehen. Das gilt für die Palästina-Frage - gerade die Niederlage im Sechs-Tage-Krieg 1967 war ja von großem Einfluss auf den Niedergang säkularer und den Aufstieg islamistischer Ideen - ebenso wie für die Entstehung Saudi-Arabiens und die Kolonisierung und Dekolonisierung.

Das Spektrum der Themen des sechsten Bandes geht - sicherlich auch bedingt durch die Tatsache, dass der Herausgeber, Robert W. Hefner, Ethnologe ist - weit über die klassische Islamwissenschaft hinaus; es reicht von demographischen Entwicklungen bis zu neuen Medien, von Stadtgeschichte bis zu Wirtschaft. Dabei dominieren auch in diesem Band sehr stark nordamerikanische Autoren, was in der Summe die Gefahr einer gewissen Einseitigkeit in sich birgt.

Das Thema des Bandes, "Muslimische Kultur und Gesellschaft", zeichnet sich durch eine unmittelbar ins Auge fallende Unschärfe aus, die für seine Gesamtkonzeption charakteristisch ist. Die vom Herausgeber verfasste Einleitung konzentriert sich auf die islamische Geistesgeschichte im Sinne religiöser Ideen, deren Pluralisierung im Zuge der Moderne sie postuliert. Sie widmet zwar auch dem Höhenflug säkularistischer Ideen bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts Raum; in den Beiträgen des Bandes finden diese aber keinen eigenen Platz. Andererseits enthält der Band - durchaus wichtige und innovative - Kapitel, die sich mit Themenkomplexen wie Migration, Urbanisierung und Globalisierung befassen: Phänomene, die von größter Bedeutung für die neuere Entwicklung der islamischen Welt sind, für die aber der religiöse Aspekt von allenfalls nachrangiger Bedeutung ist. Diese Vermischung zwischen islamischen Diskursen und der Lebenswirklichkeit von Muslimen kennzeichnet die Themenauswahl und wirft bisweilen die Frage nach deren Kohärenz und gleichgewichtiger Relevanz sowie nach der umfassenden Abdeckung der einschlägigen Themenbereiche auf. Übermäßig gravierend sind die bestehenden Lücken und Inkonsistenzen nicht, doch sollte ein Referenzwerk diesbezüglich natürlich andere Erwartungen erfüllen als ein Sammelband.

Vielleicht ist der Anspruch, zu einem solch ausufernden und diffusen Thema wie "Muslime und die Moderne" ein Referenzwerk vorzulegen, aber auch zu hoch? Der Band legt sicher eine anregende und ganz überwiegend qualitativ hochwertige Auswahl von Überblicksdarstellungen zu einer Fülle von interessanten und relevanten Themen vor, die den aktuellen Forschungsstand widerspiegeln. Hervorzuheben sind unter anderem wichtige und grundlegende Beiträge zur Refiguration der muslimischen Gemeinschaft durch Migration und neue Kommunikationsmöglichkeiten (39-68), zur Bevölkerungsentwicklung und Globalisierung (69-106), zu den Ursprüngen islamischer Reform (107-147), der heutigen Rolle der ʿUlamāʾ (335-354) und anderen Themen. In Einzelfällen würde man sich eine klarere Benennung von Forschungslücken wünschen, wie etwa in Ahmad Dallals Beitrag zu den Anfängen islamischer Reform (107-147), der den dünnen Wissensstand zur Ideengeschichte des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts außer Acht lässt und somit auch für seine These, es gebe keinen klaren Zusammenhang zwischen den Reformern um die Wende zum 19. Jahrhundert und denen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, keine Belege liefert außer der Aussage, die beiden Gruppen von Reformern seien von jeweils grundverschiedenen Anliegen geleitet gewesen.

Etwas befremdlich erscheint die Tatsache, dass es in manchen Beiträgen mehr um den Nahen Osten als um die islamische Welt oder "den Islam" geht, etwa im Zusammenhang mit Stadtgeschichte, Kunst, Kino und Fernsehen; hier fällt wieder die unzureichende thematische Trennschärfe in der Konzeption des Bandes ins Auge. Einzelne Kapitel widmen sich denkbar breiten Themen wie "Sufism and neo-Sufism" (355-384) oder "Islamic Political Thought" (387-410), was dem Anspruch eines Referenzwerks gerecht wird; andere gehen auf speziellere Themen wie die neuere Kultur und Politik Irans oder das saudische und iranische Rechtssystem ein, ohne dass so recht deutlich wird, warum nun ausgerechnet diese Fallstudien und nicht andere ausgewählt wurden. Einzelne Beiträge firmieren unter einem umfassenden Titel, behandeln aber ein recht spezifisches Thema; so verbirgt sich etwa unter einem Aufsatz zu "New Frontiers and Conversions" (254-267) ein Überblick über die Islamisierung Westafrikas, und das Kapitel zu Städten in der islamischen Welt (521-548) beschränkt sich de facto auf den Maghreb und das Osmanische Reich bzw. seine Nachfolgestaaten.

Wie ein Fremdkörper in diesem Band wirkt der Beitrag von Abdullahi Ahmed an-Naʿim zur Transformation des dhimma-Konzepts hin zur Idee des Staatsbürgers (314-334), denn er oszilliert zwischen einer Beschreibung muslimischer Diskurse und staatsrechtlicher Entwicklungen einerseits und programmatischen Überlegung zu einer Reform der Scharia in der Tradition Mahmud Muhammad Tahas, wie sie von an-Naʿim bekannt sind, andererseits.

Insgesamt bleibt ein gespaltener Eindruck von einem Werk, das konzeptionell zwischen der Untersuchung religiöser Diskurse, der Beschreibung mehrheitlich muslimischer Gesellschaften und der Analyse kultureller Entwicklungen im Nahen Osten mäandert und dadurch ein so breites und unklar definiertes Feld eröffnet, dass es kaum noch sinnvoll abzudecken ist. Daraus resultieren Lücken und Ungereimtheiten, aber gleichzeitig eine Anzahl hervorragender Überblicksdarstellungen, die nicht nur den aktuellen Forschungsstand zu relevanten und zum Teil durchaus innovativen Themen kompetent auf knappem Raum zusammenfassen, sondern auch neue Impulse zu setzen in der Lage sind.

Johanna Pink