Rezension über:

Matthias Brütsch: Traumbühne Kino. Der Traum als filmtheoretische Metapher und narratives Motiv (= Züricher Filmstudien; 17), Marburg: Schüren-Verlag GmbH 2011, 420 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89472-517-4, EUR 38,00
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Rezension von:
Johannes Pause
Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Henning Engelke
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Pause: Rezension von: Matthias Brütsch: Traumbühne Kino. Der Traum als filmtheoretische Metapher und narratives Motiv, Marburg: Schüren-Verlag GmbH 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 5 [15.05.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/05/20343.html


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Matthias Brütsch: Traumbühne Kino

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Wo die Filmtheorie von Träumen schreibt, geht es spätestens seit Hugo von Hofmannsthals Essay Der Ersatz für die Träume zumeist um die Analogie von Film- und Traumerfahrung. Matthias Brütsch wählt in seiner 2011 im Schüren-Verlag erschienenen Dissertation einen anderen Ansatz. Hier interessiert der Traum als Motiv innerhalb fiktionaler Filme, wobei auch verwandte Symptome wie Tagträume und Halluzinationen untersucht werden, die Brütsch unter dem Begriff der "figuralen Innenwelt" (19) subsumiert. Das Buch widmet sich somit einem bislang nur beiläufig erschlossenen Forschungsfeld - als Referenz wäre vor allem Bernard Dieterles Sammelband Träumungen. Traumerzählung in Film und Literatur (1998) zu nennen -, wobei es einem narratologischen Ansatz folgt: Das Ziel besteht in einer Analyse der narrativen Strukturen und dramaturgischen Funktionen von Träumen im Spielfilm, die zunächst systematisierend verfährt und aus diesem Grund, wie der Autor selbst bedauernd feststellt, auf die historischen und kulturellen Differenzen von Filmträumen nur im Ansatz eingehen kann.

Da Brütsch auf eine Abgrenzung seines Unternehmens von der "Analogiebehauptung" großen Wert legt, widmet er ihr das erste Kapitel, in dem er Positionen der frühen Kinopublizistik sowie von Surrealisten, Impressionisten, Neurophysiologen und psychoanalytischer Filmtheorie kritisch reflektiert. Zahlreiche französische und englische Zitate belegen eine umfassende Textkenntnis, werden jedoch leider nicht übersetzt. Die Apparatus-Theorie, die eine "direkte Parallele [...] zwischen Kinodispositiv und psychischem Apparat im Schlafzustand" (49) herstellt, steht im Fokus der Kritik, da sie den Realitätseffekt des Kinos überbetone und nicht zwischen unterschiedlichen Filmen, Ästhetiken, Genres und Rezeptionspraktiken unterscheide. Zudem zeigt Brütsch, dass die Analogie-These immer wieder kuriose Übertragungen von Elementen des Films auf den Traum begünstigt hat, dem im Laufe der Zeit etwa Stummheit, Farblosigkeit oder Zweidimensionalität unterstellt wurden. Die filmische Darstellung von Träumen sei hingegen seit jeher mit äußerster Skepsis beurteilt worden, was vor allem an einem naiven "Authentizitätsanspruch" (86) liege, der stets eine wirklichkeitsgetreue Darstellung des Traumgeschehens einfordere. Filmische Träume seien jedoch keine Abbildungen, sondern gehorchten narrativen und ästhetischen Konventionen, denen Brütsch sich im Folgenden zuwendet.

In einem zweiten Rundflug über die Filmtheorie wird die Behandlung des Filmtraums und anderer "Subjektivierungsformen" (126) in der klassischen Filmtheorie referiert. Brütsch zeigt, dass bei Münsterberg und Balázs die Befähigung des Films zur Darstellung von Innenwelt und Traum vor allem über die stark subjektivierende Kraft des Kinoerlebnisses begründet wird, während sich bei Bazin, Kracauer und Jean Mitry eher skeptische Anmerkungen zum Filmtraum finden, da dieser der eingeforderten Realitätstreue des Films zuwiderlaufe. Dem "Geist des Mediums" entsprechen so etwa bei Kracauer vor allem solche Darstellungen des Traumhaften, die sich von derjenigen "realer Ereignisse" gar nicht unterscheiden lassen und "lediglich durch den handlungslogischen Kontext überhaupt als irreal ausgewiesen sind." (118) Generell attestiert Brütsch allen genannten Theoretikern einen primär normativen Zugriff auf den Film.

Das eigentliche Untersuchungsprojekt beginnt im dritten Kapitel, das zunächst "Status, Markierung und Ästhetik" (129) des Filmtraums in den Blick nimmt. Neben filmischen Markierungsformen wie harten Schnitten, Überblendungen oder Bildern im Bild sowie immanenten Markierungen, etwa abweichenden Raum- oder Zeitlogiken oder auffälliger Bild- und Tongestaltung, erläutert Brütsch hier vor allem den "retroaktiven Modus", bei dem der Traum erst allmählich oder nachträglich - etwa im Moment des Erwachens - als Traum kenntlich wird. Eine weitere Kategorie bilden Filme, in denen der Realitätsstatus unklar, der Traum eher eine mögliche Deutung als ein inhaltlich explizit markierter Bestandteil der Diegese ist. Insgesamt sieht Brütsch einen der wesentlichen Effekte der Filmträume in der Abschwächung der "Immersion" und einer Hervorhebung des "Diskurscharakter[s] der Erzählung" (228), mit der auch die Filme des klassischen Hollywoods für ästhetische Experimente geöffnet würden. Diese Experimente gehorchten jedoch wiederum bestimmten Inszenierungslogiken, wobei Brütsch die Überfrachtung, die Stilisierung und die Ausdünnung als zentrale Darstellungsprinzipien nennt (232). Brütsch argumentiert hier wie auch in den folgenden Kapiteln des Buches mithilfe zahlreicher Filmbeispiele aus sämtlichen Epochen der Filmgeschichte. In der Einbindung dieser Beispiele liegt eine der größten Stärken des Bandes, gewinnt durch sie doch die mitunter etwas erwartbare Systematik nicht nur an Anschaulichkeit, sondern auch an Komplexität.

Die Frage nach der grundlegenden Eignung des Mediums Film, innere Vorgänge wie Träume oder Gedanken darzustellen, eröffnet das vierte Kapitel des Buches. Brütsch betont hier erneut, dass jede Darstellung innerer Prozesse, sei sie literarisch oder filmisch, immer eine Darstellung bleibt und damit die Frage nach ihrer Authentizität unsinnig ist. Unterschiede zwischen Literatur und Film werden jedoch deutlich, wenn es um die Erzählinstanzen des Filmtraums geht, die mit den Begriffen der klassischen Erzähltheorie, etwa dem Fokalisierungsmodell Genettes, nur ungenau zu erfassen sind. Brütsch entwickelt daher ein graduelles Erzählmodell, das auf Bordwells Unterscheidung von Tiefe und Breite des Zuschauerwissens aufbaut und unterschiedliche Differenzierungskriterien wie die raumzeitliche Ausrichtung einer Szene (Innenwelt, privates Umfeld, Öffentlichkeit), die unterschiedlichen indirekten Formen der Subjektivierung (Sprache, musikalische Hinweise), die filmische Perspektive (Point-of-View-Einstellungen) und das narrative Wissen zueinander in Beziehung setzt. Auf diese Weise entsteht ein flexibles und dynamisches Modell, das zahlreiche "Abstufungen und Variationen" (284) des Filmtraums zu erfassen erlaubt. Die spezifischen Zeitstrukturen des Filmtraums differenziert Brütsch abschließend mithilfe der Genetteschen Kategorien von Ordnung, Dauer und Frequenz.

Die Arbeit schließt mit einer Reflexion der unterschiedlichen Funktionen des Filmtraums, von denen Brütsch nicht weniger als acht nachweist - etwa die Charakterisierung des Protagonisten, die Antizipation kommender Ereignisse oder die Parodie und Selbstreflexion filmischer Konventionen. Die Erläuterung dieser Funktionen wird erneut anhand exemplarischer Filmanalysen vorgenommen, die zuweilen zu originellen Lesarten einzelner Filme führen, an einigen Stellen aber auch zu einer etwas summarischen Auflistung von erzählerischen Tricks und "Einsatzmöglichkeiten" (387) tendieren. Der filmischen Selbstreflexion hätte mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden können, beziehen sich die von Brütsch genannten Beispiele doch vor allem auf die Parodie der narrativen Konventionen des Filmtraums selbst, während die ästhetischen Programme, die in vielen Filmen über Träume oder verwandte Motive artikuliert werden und die - man denke an Inception oder Avatar - nicht selten selbst eine Film-Traum-Analogie nahelegen, unberücksichtigt bleiben. Originell, aber ebenfalls erweiterbar fällt die Reflexion des Zusammenhangs von Filmtraum und Genre aus, die sich leider auf einige Ausführungen zum Kriminalfilm sowie einen Vergleich von Horror- und Science Fiction-Film beschränkt.

Insgesamt legt Brütsch eine umfangreiche, systematische und verdienstvolle Studie vor, der höchstens ein gelegentlich etwas überbordender Drang zur Systematisierung vorzuwerfen wäre. So erscheint die am Ende des Buches vorgenommene Differenzierung von 1. für die Narration weniger wichtigen, 2. wichtigen und 3. notwendigen Filmträumen nur bedingt als erhellend. Zudem stellt sich die Frage, ob eine derart gründliche Abgrenzung von der Film-Traum-Analogie wirklich notwendig gewesen wäre, scheinen sich doch beide Ansätze kaum auszuschließen. Generell jedoch bleibt die Lektüre des ganzen Buches oder einzelner Kapitel, die problemlos auch als eigenständige Texte verständlich sind, lohnend. Weniger als Versäumnis denn als Verdienst des Autors sei zudem festzuhalten, dass der Band auf viele Aspekte des Filmtraums hinweist, die in weiteren Untersuchungen noch zu erschließen wären. Besonders interessant wären hier wohl eine diachrone Untersuchung des Filmtraums sowie ein Vergleich mit den Traumpoetiken der Literatur, der schließlich auch eine Einbettung in eine größere Kulturgeschichte des Traums ermöglichen würde.

Johannes Pause