Rezension über:

Gerd Schwerhoff: Historische Kriminalitätsforschung (= Historische Einführungen; Bd. 9), Frankfurt/M.: Campus 2011, 234 S., 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-39309-4, EUR 16,90
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Rezension von:
Maria Heidegger
Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Maria Heidegger: Rezension von: Gerd Schwerhoff: Historische Kriminalitätsforschung, Frankfurt/M.: Campus 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 12 [15.12.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/12/20266.html


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Gerd Schwerhoff: Historische Kriminalitätsforschung

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Im 9. Band der Historischen Einführungen führt Gerd Schwerhoff, Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit in Dresden, in die historische Kriminalitätsforschung ein. Bereits 1999 publizierte er unter dem Übertitel "Aktenkundig und gerichtsnotorisch" eine erste Einführung, die nun umfassend überarbeitet vorliegt. Seine Zugänge erfolgen - dem Reihenkonzept der Historischen Einführungen entsprechend - aus einer kulturhistorisch erweiterten Perspektive heraus; daraus ergeben sich neue Akzente. In sechs gut strukturierten Kapiteln wird eine mehrdimensionale Einstiegshilfe in das breite Forschungsfeld geboten und der Bogen dabei vom Spätmittelalter bis zur Zeitgeschichte gespannt. Begründet mit der Vielfalt von Rechtskulturen, Normen und Institutionen wird jedoch fast ausschließlich deutschsprachige Forschungsliteratur berücksichtigt. Paradigmatische Fallstudien werden teilweise näher vorgestellt.

Einleitend werden Kriminalität und abweichendes Verhalten als Abbilder gesellschaftlicher Zustände markiert - ihre Erforschung bewegt sich im weiten Bezugsrahmen der Sozialgeschichte, hierbei juristische Engführungen vermeidend. Das zweite Kapitel liefert einen gut verständlichen Überblick über Forschungsfelder und Konzepte, untergliedert nach Themen, Disziplinen und Epochen einerseits, Konzepten und Theorien andererseits. Hier gelingt es dem Verfasser, ausgehend von der Geschichte der Erforschung historischer Kriminalität seit den 1970er Jahren auf brach liegende Erkenntnispotentiale hinzuweisen. Auch werden Verbindungslinien zu benachbarten Forschungsrichtungen wie Psychiatriegeschichte, Polizeiforschung und Kirchenzuchtforschung deutlich skizziert. Im dritten Kapitel zu Quellen und Methoden kann Schwerhoff auf Passagen seines ersten Einführungswerkes aufbauen, worin bereits Aussagemöglichkeiten und Probleme verschiedener Quellentypen - allen voran der Gerichtsakten - beschrieben wurden. Der Verfasser verdeutlicht, wie verschiedene Quellen zu einer Vervielfältigung der Perspektiven beitragen können. Umfangreicher sind die folgenden Kapitel zu "Kriminalität und Recht" und "Kriminalität und Gesellschaft", die Kriminalität bzw. abweichendes Verhalten in einem "komplexen, kulturellen, politischen und sozioökonomischen Kraftfeld" (72) verorten.

Aus dem Blickwinkel der kulturgeschichtlich erweiterten Sozialgeschichte interessieren besonders jene Praktiken, die Auskünfte über die jeweilige Gesellschaft erteilen, wie Fragen nach der Verfahrenseinleitung, informellen Praktiken der Sozialkontrolle, der Bedeutung des Gerüchts oder außergerichtlichen und vorgerichtlichen Praktiken der Konfliktaustragung und Konfliktlösung. Schwerhoff lenkt den Blick auf die Akteure der Strafverfolgung - Amtleute, Gerichtsbüttel, Juristen und die moderne Polizei, deren Geschichte er in den Modernisierungs- und Professionalisierungsprozess einordnet. Im Unterkapitel "Strafen" werden die Hinrichtung und deren Wandel, Verbannung und Ehrenstrafen, Geldbußen und die Einsperrung behandelt, wobei gerade zu Letzterer, anders als vor zwölf Jahren, auf eine schon recht ausdifferenzierte Historiographie zu geschlossenen Häusern aufgebaut werden kann. Schwerhoff diskutiert ausführlich konträre Positionen innerhalb der historischen Kriminalitätsforschung in Bezug auf die Bewertung der Strafjustiz zwischen Repression und Sozialdisziplinierung auf der einen Seite und Konfliktregulierung und Justiznutzung auf der anderen Seite, betont dabei selbst das Doppelgesicht des Strafrechts und den Wandel der unterschiedlichen Funktionen, die für jede Epoche jeweils neu zu bestimmen seien.

Einzelne Deliktfelder leiten durch das Kapitel "Kriminalität und Gesellschaft", beginnend mit der Gewaltkriminalität. Hier werden international dominierende quantifizierende Zugänge zur Kriminalitätsentwicklung einer kritischen Prüfung unterzogen und die Idee eines allmählichen Rückgangs der Gewaltdelinquenz problematisiert. Demgegenüber plädiert Schwerhoff für eine mikrohistorisch inspirierte und quellenorientierte Untersuchung von Gewalt "als Teil einer alteuropäischen Konflikt- und Streitkultur" (120), wobei auch die "verbale Gewalt" und die Ehre integrale Bestandteile einer entsprechend "dichten" Beschreibung bilden. In einer solchen sind weibliche Akteure gleichermaßen präsent, Ehepartner treten als Teams bei arbeitsteilig ausgetragenen Ehrenhändeln in Erscheinung. Selten in den Blick gerät allerdings - bis heute - die häusliche Gewalt gegenüber Frauen. Im Unterkapitel zu Eigentumsdelikten und organisierter Kriminalität behandelt Schwerhoff die kriminelle "Unterwelt" als "schillernde Projektionsfläche" (136) und Ansätze ihrer Erforschung. Anhand der Deliktgruppe der Sexual- und Sittendelikte wird anschließend ein Überblick über die deutsche Forschungsliteratur vor allem seit den 1990er Jahren zu Ehekonflikten und Ehebruch, vorehelichem Geschlechtsverkehr bzw. "Unzucht" und "Leichtfertigkeit", Inzest, Prostitution und zur "Sodomie" als "Paradefall für die Etikettierungsperspektive" gegeben (161). Dass "jedes Delikt auch als ein Religionsdelikt verstanden werden" konnte (165), beschreibt Schwerhoff in der zusammenfassenden Darstellung religiöser Delikte und politischer Verbrechen.

Das abschließende Kapitel legt einen Fokus auf "Knotenpunkte verschiedener Kriminalitätsdiskurse" (179) und die verschiedenen Medien, in denen Aspekte und Felder der Kriminalität konstituiert wurden. Hier wird ein "interepochales Querschnittthema" (183) aufgegriffen, das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Öffentlichkeiten ebenso berücksichtigt wie jene Konfigurationen, in deren Rahmen sich die "Kriminologie" als eigene wissenschaftliche Disziplin herausbildete.

Das Buch enthält eine auf den neuesten Stand gebrachte Auswahlbibliographie, ein Register erschließt Sachen, Orte und Personen. Ergänzendes Quellenmaterial lässt sich auf der Website zum Buch unter http://www.historische_einfuehrungen.de finden - 17 aussagekräftige Quellen mit zeitlicher Streuung vom frühen 14. Jahrhundert bis zum erkennungsdienstlichen Foto von "Lucky" Luciano aus dem Jahr 1936: für den Unterricht überaus nützliches Material auf 34 zusätzlichen Seiten. Hinweise auf diese Ergänzungen gibt jeweils das Maussymbol am Textrand.

Die Rezensentin erprobt Schwerhoffs Einführung derzeit in einer Lehrveranstaltung für Studierende des Fachs Geschichte in den Anfangssemestern. Fazit: Die Pflichtlektüre ermöglicht eine gut zugängliche Orientierung über zentrale Fragestellungen in einem der innovativsten Felder der Geschichtsschreibung. Aus einem didaktischen Blickwinkel heraus erweist sich die bereits in der ersten Fassung von 1999 enthaltene Beispielanalyse der Kindestötung als besonders hilfreich, um Studierenden die Vorteile und Probleme hermeneutischer und analytischer Quellenarbeit anschaulich zu erklären. Indem Schwerhoff wiederholt auf offene Fragen im Forschungsfeld hinweist und die Konjunkturen der äußerst produktiven Subdisziplin vor dem Hintergrund der deutschsprachigen Historiographie erläutert, kann das Buch darüber hinaus anregen, sich selbst einmal forschend an einer solchen Auseinandersetzung zu beteiligen. Studierende lernen, wie, mit welchen Fragen und mit welchen Quellen sich Forschende an facettenreiche Problemstellungen rund um "Kriminalität als doppeltes soziokulturelles Konstrukt" (9) annähern und sich auf diese Weise charakteristische Aussagen über eine jeweilige historische Gesellschaft erarbeiten. Was könnte man im Praxistest mehr von einem Einführungswerk erwarten?

Maria Heidegger