Rezension über:

Carina Brumme: Das spätmittelalterliche Wallfahrtswesen im Erzstift Magdeburg, im Fürstentum Anhalt und im sächsischen Kurkreis. Entwicklung, Strukturen und Erscheinungsformen frommer Mobilität in Mitteldeutschland vom 13. bis zum 16. Jahrhundert (= Europäische Wallfahrtsstudien; Bd. 6), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2010, X + 464 S., 32 s/w-Abb., 19 Kt., ISBN 978-3-631-59643-2, EUR 79,80
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Rezension von:
Ingrid Würth
Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Martina Giese
Empfohlene Zitierweise:
Ingrid Würth: Rezension von: Carina Brumme: Das spätmittelalterliche Wallfahrtswesen im Erzstift Magdeburg, im Fürstentum Anhalt und im sächsischen Kurkreis. Entwicklung, Strukturen und Erscheinungsformen frommer Mobilität in Mitteldeutschland vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/19621.html


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Carina Brumme: Das spätmittelalterliche Wallfahrtswesen im Erzstift Magdeburg, im Fürstentum Anhalt und im sächsischen Kurkreis

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Bei der vorliegenden Dissertation Carina Brummes, die aus dem Projekt "Spätmittelalterliche Wallfahrt in Mitteleuropa" am Lehrstuhl für Christliche Archäologie, Denkmalkunde und Kulturgeschichte der Berliner Humboldt-Universität hervorgegangen ist, handelt es sich - so die Formulierung der Autorin selbst - um eine "Mobilitätsstudie" (276). Die Arbeit ist im Kontext der seit den 1980er Jahren verstärkt einsetzenden wissenschaftlichen Erforschung des mittelalterlichen Pilgerwesens zu sehen. Mit dem Beginn der 90er Jahren wandte sich das Interesse auch den nordöstlichen Regionen Deutschlands zu, und Brumme liefert mit ihrer Studie zunächst eine umfassende Sammlung und, in einem zweiten Schritt, eine gründliche Auswertung des vorhandenen Quellenmaterials im Untersuchungsraum, der im Wesentlichen dem heutigen Bundesland Sachsen-Anhalt entspricht.

Im Fokus der Untersuchung stehen die drei Grundelemente des Wallfahrtswesens, nämlich die pilgernde Person, das Ziel der Wallfahrt und der Vorgang des Reisens selbst. Gefragt wird also: Wer unternimmt eine Wallfahrt? Wohin wird gewallfahrtet? Welche Pilgerziele liegen im Untersuchungsraum selbst? Wie ist die Infrastruktur im Raum beschaffen? Brumme wertet das ihr zur Verfügung stehende Material, das Pilgerzeichen, Sühnemale und Sühneverträge ebenso einschließt wie Mirakelbücher, Mitgliedsverzeichnisse von Bruderschaften, Heiltumsbücher, Ablassurkunden, Chroniken, Reiseberichte und Rechnungsbücher, chronologisch aus: Bis zum 13. Jahrhundert lässt sich eine Bevorzugung von überregionalen Pilgerzielen wie Köln und Aachen konstatieren, erst ab dem 14. und vor allem im 15. Jahrhundert werden hauptsächlich Wallfahrtsorte im Untersuchungsgebiet aufgesucht. Dieses Ergebnis ist sicherlich dem Umstand geschuldet, dass vor 1300 nur ein Wallfahrtsort in dem betreffenden Raum quellenmäßig fassbar ist, nämlich die Nikolaikapelle auf der Hildagsburg bei Elbeu (heute zu Wolmirstedt).

Während im 12. und 13. Jahrhundert nur (hohe) Kleriker als Pilger nachzuweisen sind, wie etwa der Magdeburger Erzbischof Burchard von Woldenberg, der 1235 in Konstantinopel auf dem Rückweg aus Jerusalem verstarb, weitet sich der Kreis der Wallfahrenden im 14. Jahrhundert aus. Fernwallfahrten besonders ins Heilige Land werden zu einer Domäne hochadliger Laien, für weniger wohlhabende Schichten behalten Aachen und Köln ihre Attraktivität. Daneben gewinnen neue Ziele wie die Wallfahrt zum hl. Theobald nach Thann im Elsass, das hessische Gottsbüren oder schließlich Wilsnack an Anziehungskraft. Im Untersuchungsraum müssen die heilbringenden Reliquienschätze des Magdeburger Doms und das wundertätige Marienbild in Liebenwerda als Gnadenstätten genannt werden.

Im 15. Jahrhundert entstand eine Masse kleiner Wallfahrten, die zwar kaum mehr überregional interessant waren, dafür jedoch die Möglichkeit des fast alltäglichen Besuches boten und so Hilfe auch in kleineren Nöten versprachen. Besondere Höhepunkte bildeten die Heiltumsweisungen in Magdeburg und später in Halle und Wittenberg. Während bis zum Ende des 15. Jahrhunderts die Zahl der Pilgerziele exponentiell wuchs, ging sie zu Beginn des 16. Jahrhunderts rapide zurück. Laut Brumme ist dies weniger der Reformation zuzuschreiben als vielmehr einem "mentalen Wandlungsprozess [...], der in erster Linie von der Stadtbevölkerung ausging" (337). Zunehmend wurden Kritik an Papsttum und Kirche sowie Zweifel an der Seriosität der neuen Wallfahrten laut. Als Beispiel sei an dieser Stelle Wilsnack genannt, das von Personen aus dem untersuchten Raum nicht häufiger als Aachen oder Köln frequentiert wurde, obwohl es wesentlich näher lag. Brumme sieht den Grund für diese Auffälligkeit in dem theologisch "fragwürdigen Ruf" (307) der Wilsnacker Bluthostien und deren massenhafter Verehrung.

Insgesamt kam es, so Brumme, "zu einem immensen Anwachsen frommen Handelns unter den Laien" (324) im 15. Jahrhundert und somit zu einer Steigerung religiöser Mobilität. Zudem ermöglichte eine Wallfahrt das vorübergehende Ausbrechen aus dem Alltag oder gar den Rückzug in eine "mobile Parallelwelt" (325). Sie war schließlich nicht mehr nur ein religiöses, sondern auch ein soziales Ereignis, kein Ausdruck persönlicher Frömmigkeit mehr, sondern "Mittel individueller Lebensgestaltung" (346). Diese Thesenbildung von einer zunehmenden "Entsakralisierung" (349) des Wallfahrtswesens gegen Ende des 15. Jahrhunderts wird besonders reizvoll im Blick auf die Entstehung reformatorischer Ideen, die sich gerade in dieser Zeit in eben jenem Raum vollzog, der den geographischen Rahmen für Brummes Monographie bildete. Es liegt nahe, "dass die Reformation und sogar schon die ersten kritischen Äußerungen Luthers die gleichen Ursachen hatten wie der Niedergang des Wallfahrtswesens" (334). Insofern leistet die Studie nicht nur die Aufarbeitung eines umfangreichen Quellenmaterials, sondern liefert darüber hinaus einen Beitrag zur vorreformatorischen Frömmigkeitsgeschichte des Erzstiftes Magdeburg, des Fürstentums Anhalt und des sächsischen Kurkreises, der zu weiterführenden Untersuchungen anregt.

Ingrid Würth