Rezension über:

Nikolaus Back: Dorf und Revolution. Die Ereignisse von 1848/49 im ländlichen Württemberg (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde; Bd. 70), Ostfildern: Thorbecke 2010, IX + 469 S., ISBN 978-3-7995-5270-7, EUR 39,90
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Rezension von:
Wolfram Siemann
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Wolfram Siemann: Rezension von: Nikolaus Back: Dorf und Revolution. Die Ereignisse von 1848/49 im ländlichen Württemberg, Ostfildern: Thorbecke 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 7/8 [15.07.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/07/20339.html


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Nikolaus Back: Dorf und Revolution

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Es verwundert, wie es auch zur reichlich beforschten deutschen Revolution von 1848/49 immer wieder noch gelingt, gleichsam einen Vorhang beiseite zu schieben und den Blick freizugeben auf Handlungsräume und Akteure, denen bisher das Augenmerk gar nicht, kaum oder in irriger Weise geschenkt geworden ist. Viele bei Dieter Langewiesche entstandene Dissertationen haben Solches bewirkt, wenn man etwa an das politische Vereinswesen im Rhein-Main-Raum denkt (Michael Wettengel), an die Politikfähigkeit der Frauen bei den Deutschkatholiken (Sylvia Paletschek), an den militärischen Konservativismus (Eckhard Trox), an die Rolle der christlichen Kirchen (Stefan J. Dietrich) oder noch jüngst an das Fortleben des alten Reichsgedankens in der Vorstellungswelt des politischen Katholizismus (Phil-young Kim). Die hier vorzustellende, von dem Tübinger Landeshistoriker Sönke Lorenz angeregte und von Langewiesche als Zweitgutachter mit betreute Dissertation über "Dorf und Revolution" gewährt diese neue Sicht auf die Rolle der Bauern als Revolutionsteilnehmer, über die es zahlreiche Vor-Urteile, aber bisher keine substanzielle empirische Basis gab. Diese hat Nikolaus Back nun geschaffen, indem er auf der regionalen Basis des Königreichs Württemberg das Thema systematisch in Angriff genommen hat. Es sei vorweg genommen: Er widerlegt, einer älteren Hypothese Langewiesches folgend, das Vorurteil von der anfänglichen politischen Unruhe und nachfolgenden Tatenlosigkeit der Bauern. Das Innovative der Untersuchung liegt darin, erkannt zu haben, dass die sektorale Realitätsblindheit für das Handeln der Bauern ein Quellenproblem war, da man sich bisher so gut wie ausschließlich auf die (Lokal-)Presse als Leitquelle gestützt hatte. Deren an Tatsachen überquellende Materialfülle ist aber in der Hauptsache auf den städtischen Lebensraum konzentriert. Den Schlüssel fand Back in den bisher übersehenen Berichtsserien der 64 Oberamtmänner, welche an das Innenministerium zwischen 1848 und 1850 regelmäßige Berichte über die Stimmung der Bevölkerung abgaben und darin die ländlichen Gebiete gebührend berücksichtigten. Glücksfunde, die nur dem systematisch Suchenden zuteil werden, kamen hinzu, so drei von der Regierung beschlagnahmte Vereinsarchive dörflicher Volksvereine; darüber hinaus in reichlichem Maße gerichtliche Untersuchungsakten, ferner Pfarrberichte und Pfarrchroniken. Die gewiss aufschlussreiche, in privater Hand befindliche Überlieferung der Adelsherrschaften musste aus Gründen der Arbeitsökonomie ausgespart bleiben.

In fünf Schritten umkreist die Untersuchung ihr Thema. Nach einer exzellenten Bilanz der Forschungslage mit Rücksicht auch über Württemberg hinaus und nach den begrifflichen Klarstellungen, was vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kommunalverfassung als 'Dorf' und als 'Stadt' anzusehen sei, gibt die Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Situation (1) das sozioökonomische Fundament. Auf knappstem Raum werden die Spezifika des Landes vorgestellt: die Spaltung in die Gebiete von Real- und Anerbenrecht, die unvollständige Ablösung der feudalen Lasten, die Ungleichheit zwischen den alt- und neuwürttembergischen Landesteilen, die Zwitterexistenz des markt- und subsistenzorientierten Handwerks mit ländlichem Nebenerwerb, die vormärzliche Gewerbekrise und die Auswirkungen der Hungersnot 1846/47.

Breiten Raum nehmen sodann die ländlichen Unruhen im Frühjahr 1848 (2) ein. Mir ist nicht bekannt, dass bisher in einer Studie so gründlich die Proteste und Unruhen gegen die regionalen Adelsherrschaften untersucht worden wären, was nicht verwundert, da sie sich in den Zeitungen kaum niedergeschlagen hatten. Der Leser erhält, wie überhaupt in dieser Studie, einen unglaublich intensiven und konkreten Einblick in Handlungsabläufe, hier in Bauernversammlungen, Tumulte vor den Wohnungen von Rentbeamten und in das abgestufte System von Schädigungen der herrschaftlichen Repräsentanten (Überblick zu 30 Adelsunruhen, 341-346). Back fragt hier zu Recht, inwiefern diese Aktionen späteren organisatorischen Verfestigungen von Vereinsstrukturen auf dem Land vorausgingen - er bejaht dieses. In der Regel traf es nicht die Adligen selbst, sondern die Rentbeamten; nicht Personen, sondern die Vernichtung der Dokumente und Urkunden waren der Zweck der Angriffe. Als Hauptziel schälte sich der Protest gegen die durch Heinz Gollwitzer entdeckte "doppelte Untertanenschaft" gegenüber Landherrn und adliger Herrschaft heraus. [1] Die Themen, welche später in den Debatten der Paulskirche im Zentrum standen, fanden vor Ort ihr Publikum: die altertümlichen feudalen Besitzwechselabgaben (Laudemien), das adlige Jagdprivileg und die enteigneten Waldrechte. Kannte man durch Manfred Gailus' Erforschung der Basisrevolution den städtischen Protest hinreichend, legt nun Back die kommunalen Unruhen in den Landgemeinden frei - eine Revolution vor Ort. Die bereits bei Birgit Bayer für das Frühjahr behandelte Bewegung gegen die Schultheißen - die Obrigkeit im Dorf - wird systematisch für das gesamte Revolutionsjahr untersucht. In minutiöser Analyse bilanziert Back zwischen dem 1. März und 31. August 1848 insgesamt 353 Rücktritte; davon erhielten 320 Dörfer neue Schultheißen (Tabelle, 347-355). Den bekannten 'Märzministern' sind auf dem Dorfe mithin die bisher unbekannten 'Märzschultheißen' zur Seite zu stellen, denn gerade die Rücktritte im Frühjahr traten als "Massenphänomen" auf und weiteten sich zu einem "Flächenbrand" aus (92). Dazu gehörten Rathauserstürmungen, Absetzungen von Gemeinderäten und Steuerverweigerungen. Diese Aktionen zeigen ein Maß politischer Aktivität, wie man es der Landbevölkerung bislang kaum zugetraut hatte. Beiläufig werden Manfred Hettlings pauschalisierte Zweifel an dem revolutionären Charakter von 1848, die ja Württemberg als Paradeargument benutzen, einmal mehr und überzeugend ausgeräumt. Besonders beleuchtet wird die Auseinandersetzung der Dorfbevölkerung mit dem Staat vor Ort: den Landjägern als Polizeigewalt, den Forstbeamten und den Oberamtmännern, welche das Militär rufen konnten. Das verblüffende Resultat lautet: Die Unruhen der Landbevölkerung waren in der Hauptsache eine Revolution gegen den Adel und die Schultheiße, gegenüber den vorgesetzten staatlichen Autoritäten blieb sie Randerscheinung; die Revolution machte "nicht nur vor den Thronen halt, sondern bereits vor den Oberamtsgebäuden" (105).

Es ist das Verdienst der Studie, dass sie über die Frühjahrsereignisse hinausgeht und das Verhalten der Landbevölkerung im Frühjahr und im Sommer 1848 (3) verfolgt. Die bisher unterschätzte Politisierung durch die Wahl zur Frankfurter Nationalversammlung und durch die Landtagswahl vom Mai 1848 legte das Fundament für das entstehende politische Vereinswesen auf dem Lande. Es konnte anknüpfen an das bereits vorhandene teils bürgerliche, teils ländliche Vereinswesen, das durch die Wahlen ergänzt wurde um die bisher nicht wahrgenommenen "Vaterländischen Bezirksvereine" in den Landgemeinden der Oberämter. Als elementares Movens für die politische Beteiligung erwies sich die soziale Notlage, aber diese wurde nun durch die entstehenden politischen Vereine in den Dörfern kanalisiert.

Einen Kernteil der Untersuchung für die These von der Politikfähigkeit der Landbevölkerung bildet das Kapitel über die Vereinsbewegung im Frühjahr 1849, also für eine Periode, in welcher üblicherweise die Bauern in der Revolution gar nicht mehr vorkommen. Back macht geradezu eine Gründungswelle ländlicher Vereine aus, welche zurückgeht auf die Initiativen den Zentralmärzvereins (Carl Mayers "Ansprache an die Mitbürger auf dem Lande") und auf die Publikation der Grundrechte, beides im Dezember 1848. Die massenhaft verbreitete Rede legt eindrucksvoll Zeugnis ab von den Kanälen der Kommunikationsrevolution auf dem Lande (Beilage zur Zeitung, persönliches Verteilen, Volksversammlungen, Märkte). Insgesamt ermittelt die Studie nach dem im Frühjahr 1848 abgeklungenen Impuls eine zweite Generation von Bezirksvereinen, welche bis in die Zeit der so genannten Reichsverfassungskampagne reichen. Back kann sie dank dreier aufgefundener Vereinsarchive für einzelne Dörfer genauestens beschreiben (155-172, 227-242, Gesamtverzeichnis: 360-423). Anhand dieser Überlieferung erhalten auch die Akteure ein Gesicht, und dazu zählten insbesondere die Dorfpfarrer, Dorfschullehrer, die liberalen Schultheißen und Verwaltungsaktuare. Immer hebt er auch das widerstrebende Gegenlager, konservative Kräfte im Spannungsfeld der Landgemeinden hervor, etwa die Piusvereine. Insgesamt bilanziert Back aus der Gesamtzahl von 514 Vereinen 453 Volksvereine aus Dörfern oder Nicht-Oberamtsstädten. Die Wirksamkeit dieses Vereinsnetzes erwies sich noch an dem überwältigenden Sieg der Demokraten bei den Landtagswahlen zum 1. August 1849.

Es ist wohl das beste Lob für eine Studie, wenn man sagen kann, sie habe den Vorhang beiseite geschoben und Aufklärung vermittelt, gleichzeitig aber den Blick freigegeben für weitere Türen, die es zu öffnen gilt: Backs Untersuchung zeigt Württemberg - wie es sich anderswo verhielt, wäre noch zu klären. Außerdem demonstriert sie einmal mehr, wie dringlich es ist, die Rolle des Adels in der Revolution auf allen Handlungsebenen unterhalb der Märzministerien (diese hat Eva Maria Werner behandelt) bis zum gutsherrlichen Landadel zu untersuchen, eine Herkulesaufgabe für mehr als eine Historikerin oder einen Historiker, bedarf es doch hier des mühevollen Wegs in die privaten Adelsarchive.


Anmerkung:

[1] Hinsichtlich der adligen Klosterherrschaften haben "die Fürsten Metternich" nicht 1825 das Kloster Ochsenhausen erworben: Der Vater des Staatskanzlers, Franz Georg, erhielt dies 1803 im Zuge der Mediatisierung als Entschädigung für die linksrheinischen Gebiete; dabei wurde das gräfliche Haus in den Fürstenstand gehoben; der Sohn verkaufte die Domäne 1825 an den württembergischen König Wilhelm I. und erwarb dafür anschließend das böhmische Plaß; vgl. bei Back Seite 43 u. Anm. 31.

Wolfram Siemann