Rezension über:

Stephen E. Hanson: Post-Imperial Democracies. Ideology and Party Formation in Third Republic France, Weimar Germany, and Post-Soviet Russia (= Cambridge Studies in Comparative Politics), Cambridge: Cambridge University Press 2010, XXVII + 274 S., ISBN 978-0-521-70985-9, GBP 15,99
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Rezension von:
Alfred Gerstl
Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Gerstl: Rezension von: Stephen E. Hanson: Post-Imperial Democracies. Ideology and Party Formation in Third Republic France, Weimar Germany, and Post-Soviet Russia, Cambridge: Cambridge University Press 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 6 [15.06.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/06/18144.html


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Stephen E. Hanson: Post-Imperial Democracies

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Vergleichbar mit der epochalen Transformation in Mittelosteuropa 1989, veranschaulichen die aktuellen Revolutionen im Nahen Osten, dass beim Übergang von einem Regimetyp zu einem anderen große politische, wirtschaftliche und soziale Unsicherheit herrscht. Anders als Parteigründer im Nahen Osten (mit Ausnahme der ägyptischen Muslimbrüder) konnten die neuen politischen Parteien in Mittelosteuropa nach der Wende 1989 indes an Traditionslinien aus der Zwischenkriegszeit anknüpfen, die den Übergang zu demokratischen Mehrparteiensystemen erleichterten. Dennoch standen auch sie vor der großen Schwierigkeit, ein konzises politisches Programm und Organisationsstrukturen zu entwickeln, um Orientierung zu vermitteln und Parteimitglieder und Wähler anzuziehen. Weshalb nur einigen politischen Parteien die dauerhafte Verankerung im politischen System gelang und warum noch weniger Parteien eine politische Dominanz etablieren konnten, ist die zentrale Forschungsfrage von Stephen E. Hanson (University of Washington, Seattle)

Den - eingeschränkten - empirischen Untersuchungsgegenstand des amerikanischen Politikwissenschafters und ausgewiesenen Russland-Experten bilden die Frühphasen von drei post-imperialen Demokratien: die Dritte Französische Republik (1870-1886), die Weimarer Republik (1918-1934) und Russland (1992-2008). Die drei Fallstudien, die eine fundierte Analyse der drei politischen Systeme und der in diesen vertretenen wichtigsten (insgesamt 16) Parteien bieten, finden sich im zweiten Abschnitt von "Post-Imperial Democracies". Im ersten Teil entwickelt Hanson sein Theoriegerüst, das auf Max Webers methodischen Individualismus, seiner Ideologietheorie sowie einer Diskussion der Klassiker der Parteienforschung basiert.

Nach einem verlorenen Krieg - ein tatsächlicher im Falle von Paris und Weimar, ein ideologischer im Falle Moskaus - sahen sich die Bürgerinnen und Bürger dieser vormaligen Imperien mit vielfältigen Existenzängsten konfrontiert, welche die politische, ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung belasteten. Weitere Parallelen sind u.a. eine vorsichtige politische Liberalisierung in der Endphase der imperialen Herrschaft, ein hegemonialer Konflikt zwischen Exekutive und Legislative in der jungen Demokratie, eine (anfänglich) umstrittene Verfassung sowie eine forcierte sozioökonomische Modernisierung, die aber aufgrund schwerer Wirtschaftskrisen jeweils unterbrochen wurde.

Hanson streicht die Bedeutung von ideologisch inspiriertem sozialen Handeln gerade in Zeiten hoher Ungewissheit über die Zukunft heraus, haben Ideologien doch eine wesentliche Orientierungs- und Mobilisierungsfunktion für rationale Akteure, die je für sich genommen politisch wenig ausrichten können. Hansons Hauptthese lautet, eine klare und kohärente Partei-Ideologie - verstanden als Vision des anzustrebenden zukünftigen politischen Gemeinwesens und der Definition der Teilhaberechte an diesem - spielt in einem von sozialer und institutioneller Unsicherheit geprägten politischen System die zentrale Rolle dafür, ob es einer auf nationaler Ebene agierenden Partei gelingt, Bürgerinnen und Bürger von ihrer Gründung an dauerhaft zur politischen Mitwirkung ("collective action") zu motivieren.

Auch wenn Hanson postuliert, dass eine ideologisch motivierte Partei im politischen Wettbewerb in einem chaotischen sozialen Umfeld einer rein pragmatisch oder opportunistisch ausgerichteten Gruppierung überlegen ist, so muss er doch einräumen, dass eine noch so konzise Ideologie alleine den Erfolg einer Partei nicht zu erklären vermag. Wesentlich ist seiner Ansicht nach neben historischen und sozialen Faktoren nicht zuletzt, ob die Partei über einen charismatischen Führer verfügt, der wertrational (M. Weber) und damit glaubwürdig für Programmatik und Prinzipien eintritt und diese bei einer Regierungsübernahme auch tatsächlich umsetzt. Eine solche Partei, so der amerikanische Politologe, könne eine politisch-ideologische Hegemonie etablieren. Im Falle von Frankreichs Dritter Republik gelang es Léon Gambettas republikanischen Radikalen, eine Mehrheit von der Wünschbarkeit eines demokratischen Mehrparteiensystems zu überzeugen; im Falle der ebenfalls stark polarisierten Weimarer Republik setzte sich letztlich Adolf Hitler mit seiner Rassenwahn-Ideologie durch. In Bezug auf Russland ist die Zukunft nach einem viel versprechenden demokratischen Beginn offen, weshalb es ein ideales Beispiel ist, um Hansons Thesen zu testen.

Herausgegriffen sei an dieser Stelle neben Russland unter Boris Jelzin und Wladimir Putin die Frühphase der Weimarer Republik. Hanson argumentiert, dass die Saat für das Scheitern der deutschen Demokratie bereits 1918 gelegt wurde: "In the chaotic wake of defeat in World War I, antirepublican political elites managed to define clear and consistent conceptions of the principles of membership that would guide the future reconstruction of the German polity with far greater success than prodemocractic politicians" (127). Die liberalen Parteien scheiterten dagegen, da es ihnen anders als der NSDAP, der Deutschnationalen Volkspartei, der Sozialdemokratischen und der Kommunistischen Partei nicht gelang, eine klare Parteiideologie zu entwickeln. Hansons Analyse der acht zentralen Weimarer Parteien reicht bis auf die Monarchie zurück; sie ist solide, wirft aber keine grundlegend neuen Erkenntnisse auf.

Dass sich schließlich die NSDAP im polarisierten Pluralismus der Weimarer Republik durchsetzte, liegt laut dem Autor daran, dass "the Nazi Party (...) was able to overcome the collective action problem in mobilizing a national network of activists because a sufficient number of ideological converts accepted Hitler's long-run vision of the Third Reich as a credible picture of the future German state" (167). In den 1930er Jahren gelang es Hitler, der strikt zu seiner Ideologie stand, alle anderen Weltanschauungen erfolgreich zu diskreditieren. Dennoch: Wie auch Hanson hervorhebt, mitentscheidend für Hitlers Machtergreifung 1933 waren die Rolle, welche Präsident Hindenburg und die DNVP spielten.

Dass keine traditionelle Demokratietheorie den scheinbaren anfänglichen Erfolg der Demokratisierung Russlands wie den Rückfall in den nicht-ideologischen Autoritarismus am Ende der Ära Jelzin erklären kann, ist ein korrekter Befund. In seiner Analyse der post-imperialen russischen Demokratie (1992-2008) hebt Hanson als Hauptproblem hervor, dass sowohl unter Präsident Jelzin als auch seinem Nachfolger Putin die jeweilige Partei der Macht, stets von oben gegründet, keine eigentliche Ideologie besaß, sondern lediglich ein opportunes Instrument in den Händen des Präsidenten darstellte. Eine liberale Alternative zu diesem Herrschaftsmodell existiert nicht: Politisch wie parteipolitisch sind die liberalen Reformer der ersten Stunde, wie etwa Jegor Gaidar oder Grigori Jawlinski, völlig gescheitert. Wie Hanson darlegt, galt ihr primäres Augenmerk der faktischen Politik, nicht der Schaffung einer ideologisch klar verorteten Partei.

Die beiden einzigen seit 1992 konstant erfolgreichen und im Sinne Giovanni Sartoris relevanten Parteien mit einer nationalen Organisationsstruktur - die Kommunistische Partei und Wladimir Schirinowskis Liberaldemokratische Partei - bieten keine demokratische Alternative. Während es nicht überrascht, dass die Kommunisten eine kohärente, mit Nationalismus angereicherte Ideologie vertreten (noch dazu, wo es in der Opposition immer einfacher ist, die "reine Lehre" zu vertreten), ist dieser Befund in Bezug die Liberaldemokraten überraschend. Doch gerade hier ist Hansons Argumentation alles andere als überzeugend; Ziel scheint zu sein, seine These gegen offensichtliche Unstimmigkeiten und Widersprüche in der LDP-Parteiideologie abzusichern. Abweichungen von der Parteilinie sowie irrationale und extreme Forderungen Schirinowskis ordnet er nämlich der Kategorie "Scherz-Faschismus" (195) zu oder tut sie als gezielte Parodien ab - Parodien, die von den Wählerinnen und Wählern als solche entlarvt und damit nicht als programmatischer Widerspruch empfunden würden.

Weder die LDP noch die Kommunistische Partei erreichte die Stärke der französischen oder deutschen Anti-System-Parteien. Aus diesem Grund, so Hanson, konnte sich das anti-ideologische, aber autoritäre System Jelzin durchsetzen und von Putin sogar noch gestärkt werden. Durch Neugründungen, Zusammenschlüsse und die faktische Macht des Präsidialapparates vermochte die anfänglich schwache Präsidentenpartei nach der schweren Wirtschaftskrise 1998, die liberales Gedankengut vollends diskreditierte, eine hegemoniale Position einzunehmen. Diese Dominanz bedroht laut Hanson die Entwicklung eines pluralistischen Mehrparteiensystems in Russland nachhaltig.

Der amerikanische Parteienforscher erhebt in seiner komparativ-historischen Studie gleich einen dreifachen Anspruch, Neuland betreten zu haben: erstens mit seiner Re-Interpretation der Relevanz von Ideologien für Parteigründungen, zweitens der Bedeutung von Ideologien zur Lösung von "collective action"-Problemen in post-imperialen Demokratien sowie, drittens, mit seiner Rückbesinnung auf die originären Theorien Max Webers Neuland zu betreten. Auch in anderen Passagen stört mitunter Hansons lautstark vorgetragener Innovationsanspruch, der erst im Schlusskapitel einer angemessenen Bescheidenheit weicht. So ist es zwar korrekt, dass einzelne sozialwissenschaftliche Theorien die kausale Relevanz von Ideologien und Ideen herunterspielen; doch existieren genügend konstruktivistische Ansätze, welche die Bedeutung von Normen, Werten und Ideen umso stärker hervorheben. Diesen wird Hanson in seiner Analyse mit einem zu kurzen Verweis auf Alexander Wendt (6-7 u. 11) nicht gerecht (die Copenhagen School fehlt völlig). Weiters mag zutreffen, dass Weber im angelsächsischen Raum nur über Übersetzungen und Interpretationen zugänglich ist, die ihn häufig in die Nähe seines wichtigsten Übersetzers Talcott Parsons rücken; für den deutschen Sprachraum gilt dies jedoch nicht. Beispielhaft zeigt sich Hansons mangelnde Kenntnis der deutschsprachigen Forschungslandschaft in der mangelnden Berücksichtigung von Sigmund Neumanns auf Weber aufbauenden "Bestimmungselementen" von Parteien. Hingegen kann sich der Autor teilweise auch auf französische und russische Quellen stützen. In diesem Zusammenhang ist das Fehlen eines Literaturverzeichnisses kritisch anzumerken.

Doch zurück zu Stephen Hansons Hauptthese. Stärker als die russische Fallstudie zeigen die Beispiele Dritte Französische Republik und Weimarer Republik, dass Ideologien zwar wichtige Variablen sind, um die Motive für die Gründung und den wahlpolitischen (Nicht-)Erfolg von Parteien zu erklären. Sie liefern jedoch keine ausreichende Erklärung, warum sich letztlich eine bestimmte Ideologie und ein bestimmtes politisches System durchsetzen. Hansons These mag zwar nicht spektakulär sein - aber gerade deshalb mag sie auch auf ebenfalls von Unsicherheiten geprägte, vormalige nicht-imperiale Demokratien anwendbar sein (etwa auf die sich derzeit im Nahen Osten in Entwicklung befindlichen) und wichtige Anhaltspunkte liefern, warum sich dort bestimmte Parteien behaupten. Um den Umkehrschluss zu ziehen: Hansons Analyse verdeutlicht, dass strukturelle und/oder materialistische Ansätze alleine die Ausprägung eines Parteiensystems und die Gründe für den wahlpolitischen Erfolg einzelner Parteien ebenfalls nicht hinlänglich zu erklären vermögen.

Alfred Gerstl