Rezension über:

Antonio Negri / Raf Valvola Scelsi: Goodbye Mr. Socialism. Das Ungeheuer und die globale Linke (= Critica Diabolis; 163), Berlin: Edition Tiamat / Verlag Klaus Bittermann 2009, 239 S., ISBN 978-3-89320-130-3, EUR 26,00
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Rezension von:
Tobias Hof
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Hof: Rezension von: Antonio Negri / Raf Valvola Scelsi: Goodbye Mr. Socialism. Das Ungeheuer und die globale Linke, Berlin: Edition Tiamat / Verlag Klaus Bittermann 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 3 [15.03.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/03/17795.html


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Antonio Negri / Raf Valvola Scelsi: Goodbye Mr. Socialism

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Der 77-jährige Italiener Antonio Negri zählt derzeit zu den gefragtesten linken Intellektuellen. Dem Publikum ist er vor allem als Ikone der Globalisierungsgegner und als Autor - zusammen mit dem Amerikaner Michael Hardt - der Bücher "Empire - Die neue Weltordnung" (2000), "Multitude - Krieg und Demokratie im Empire" (2004) und "Common Wealth - Das Ende des Eigentums" (2010) bekannt. Bereits in den 1970er Jahren war Negri einer der führenden Köpfe der autonomen Bewegung Italiens und Vertreter der neomarxistischen Strömung des Operaismo. Während seiner Zeit als Professor für politische Wissenschaften an der Universität in Padua geriet er Ende der 1970er Jahre unter Terrorismusverdacht und floh nach Paris. Erst 1997 kehrte er nach Italien zurück und verbüßte eine äußerst umstrittene sechsjährige Haftstrafe.

2009 erschien in deutscher Übersetzung ein Interview, das der Historiker und Publizist Raf Valvola Scelsi drei Jahre zuvor mit Negri geführt hatte. Der deutschen Ausgabe ist zudem ein Postskriptum beigegeben, das ein kürzeres Gespräch zwischen Negri und den Publizisten Thomas Atzert und Alex Weltz wiedergibt. Zwei Anliegen stehen dabei im Mittelpunkt der Ausführungen Negris: Zum einen unterzieht er die Situation, in der sich die politische Linke seiner Meinung nach befindet, einer kritischen Analyse. Dabei ist es wenig verwunderlich, dass Negri als radikaler neomarxistischer Intellektueller die politische Linke für unfähig hält, sich aus der Krise selbst zu befreien und die zahlreichen Probleme zu bewältigen, mit denen sie konfrontiert ist. Zum anderen gibt er eine Synthese seiner Theorie der "Multitude" und spannt dabei einen Bogen von der Bewegung auf dem Tienanmen-Platz, über den Fall der Berliner Mauer, den Krieg im Irak, den Zapatismus, den Globalisierungsgegnern in Seattle oder Genua bis hin zu Barack Obama. Die "Multitude" ist für Negri ein offenes Beziehungsgeflecht, ein Netzwerk von Singularitäten, die zwar gemeinsam handeln, aber nicht zwangsweise einem einheitlichen Willen unterworfen sind.

Die Idee, gerade einem breiteren Publikum die Theorie der "Multitude" und die Situation der politischen Linken, wie sie von Neomarxisten gesehen wird, mit Hilfe eines Interviews näher zubringen, ist zunächst ein guter Ansatz. Leider ist die Umsetzung nicht geglückt. Denn je intensiver man sich mit dem Buch befasst, desto verstörter wird man. Negri versucht nicht - eingängig und fern jeglicher Dogmatik, wie der Umschlagstext suggeriert -, sich argumentativ mit den Problemen der Linken auseinanderzusetzen. Auch bemüht er sich wenig, die Ursachen für die Krise zu analysieren und Lösungsvorschläge darzulegen. Negris einziges Ansinnen - so der Eindruck - ist eine polemische, teils realitätsfern anmutende Abrechnung mit der institutionalisierten Linken. Freilich soll dies nicht heißen, dass die Linke nicht in einer Krise stecken würde - die SPD in Deutschland sei nur ein Beispiel - oder keine Fehler begangen hätte. Die Herangehensweise von Negris entbehrt aber einer dialektischen Erörterung des Für und Wider, des Differenzierens und abgewogenen Urteilens. Erleichtert wird ihm sein "Kreuzzug" durch die Form des Interviews, die es ihm erlaubt, seine gewagten Thesen nicht belegen zu müssen.

Negris Geschichtsverständnis mutet teils grotesk an. Historische Tatsachen - Negri würde diesen Einwurf mit Sicherheit als "reaktionäres Geschichtsverständnis" abtun - werden verdreht und den eigenen Thesen angepasst. So wird der Sieg gegen das Dritte Reich als alleiniger Erfolg der UdSSR dargestellt, die Verbrechen des Sowjetregimes werden verschwiegen, der Stalinismus wird als ein positives "Modernisierungsphänomen" verharmlost, die Schuld für den Kalten Krieg einzig den Westmächten angelastet oder die algerische Nationale Befreiungsfront (FNL) als eine Organisation dargestellt, die einen "nationalen Befreiungskrieg" mit großer Intelligenz führte - die zahlreichen unschuldigen Opfer ihrer terroristischen Aktionen fallen für Negri nicht ins Gewicht.

Ebenso fragwürdig erscheint Negris Einstellung zur Frage der Gewalt, die sich seit den 1970er Jahren nicht veränderte. Gewalt ist für ihn ein Bestandteil der Bewegung und als solche legitimiert. Dabei unterscheidet er im Sinne des Neomarxismus nicht zwischen der Gewalt gegen Personen oder Sachen. In diesem Denken werden linke Privatradios, die in Italien in den 1970er Jahren zur Gewalt aufriefen, zu Beispielen "direkter und demokratischer Partizipation" (83), die Politik der inneren Sicherheit wird pauschal als "faschistisch" diffamiert, und zwischen der Ausübung von Streiks und dem Tod von Menschen bei Demonstrationen wird nicht weiter differenziert.

An wenigen Stellen, so scheint es zunächst, offeriert Negri der politischen Linken in Europa mögliche Strategien, um zumindest den freien Fall abzuwenden. Aber kann der Ausschluss der britischen Labour Party aus Europa wirklich zu diesem Ziel führen? Widerspricht dies nicht dem gesamten europäischen Gedanken und Einigungsprozess, der - wenn auch zurückhaltend - in Großbritannien gerade von der politischen Linken und nicht von anderen Parteien getragen wird? Negri begründet seinen Vorschlag einzig damit, dass Tony Blair für die politische Linke ein Desaster sei. Kann aber die britische Labour-Party wirklich nur auf den inzwischen abgetretenen Blair reduziert werden? Negris Hoffnungen liegen nicht in Europa, sondern jenseits des Atlantiks. Er setzt hohe Erwartungen in die politischen Fähigkeiten Barack Obamas, wobei es fraglich bleibt, wie Negri eine derartige Fixierung auf eine Person mit seinem Weltbild der "Multitude" vereinbaren möchte.

Was bleibt nach der Lektüre? Ohne Zweifel bietet dieses Buch einen Einblick in das derzeitige Weltbild Antonio Negris. Personen, die bereits Anhänger seiner Theorien sind, werden sich auch mit diesem Interview identifizieren können. Was ist aber mit den Neugierigen - zu denen sich der Rezensent zählt -, den Skeptikern oder gar den Gegnern? Sie werden mit diesem Werk aufgrund seiner polemischen Umsetzung nur sehr wenig anfangen können. Negris Thesen und ihre Präsentation werden sie kaum überzeugen können. Vielmehr dürften viele das Buch nach einer gewissen Zeit zur Seite legen, da sie sich nicht mehr die Mühe machen möchten, den Darlegungen zu folgen. Wer sich fundierter mit der Theorie Negris auseinandersetzen möchte, der sollte dieses Buch meiden und lieber seine Werke "Empire", "Multitude" oder "Common Wealth" konsultieren, in denen er Argumente liefert und sich nicht mit schierer Polemik begnügt.

Tobias Hof