Rezension über:

Michael Sontheimer: "Natürlich kann geschossen werden". Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion, München: DVA 2010, 216 S., ISBN 978-3-421-04470-9, EUR 19,95
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Rezension von:
Marc Bauer
München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Marc Bauer: Rezension von: Michael Sontheimer: "Natürlich kann geschossen werden". Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion, München: DVA 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 2 [15.02.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/02/19324.html


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Michael Sontheimer: "Natürlich kann geschossen werden"

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"Eines Tages", prophezeite Andreas Baader seiner Lebensgefährtin Ellinor Michel, "wirst du mich auf dem Cover des 'Spiegel' sehen". Sein Ausspruch verwundert nicht weiter, schreibt der Autor der Roten Armee Fraktion (RAF) doch schon im ersten Kapitel maßlose Selbstüberschätzung zu. In diesem Punkt behielt Baader allerdings Recht: Tatsächlich war er nach seiner Verhaftung auf der vierten Ausgabe des Spiegel-Magazins von 1972 zu sehen. 2010 hat sich mit Historiker Michael Sontheimer erneut ein Spiegel-Autor mit dem Stoff auseinandergesetzt. Eine "kurze Geschichte der RAF" sieht der Freiburger vor, deren Hauptakzent auf den wichtigsten Akteuren liegen soll. Indem er dabei zum einen auf "ausgewählte unveröffentlichte Quellen" (201) zurückgreift und zum anderen Informationen aus Interviews mit 35 Beteiligten (vgl. 207-208) in sein Buch miteinfließen lässt, will er eigene Akzente setzen und einen für "Experten und Neulinge" (11) gleichermaßen interessanten Titel vorlegen.

Das Buch gliedert sich in zehn Kapitel, die chronologisch voranschreitend die Genese der RAF, ihren generationsübergreifenden Fortbestand und zuletzt die Lasten der Aufarbeitung besprechen. Den Beginn des Buches bildet aus dramaturgischen Gründen der Ausbruch Baaders aus dem "Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen" 1970. Interessanter als der bekannte Ablauf der Befreiungsaktion sind Sontheimers Überlegungen, was die Besonderheit der RAF ausmachte. Aufgrund der Tatsache, dass ihre Radikalisierung mit einer gleichzeitigen Liberalisierung von Politik und Gesellschaft einher ging, spricht der Autor von der Terrorvereinigung als "Luxusphänomen" (17).

Im zweiten Kapitel beleuchtet Sontheimer die Entstehung der ersten RAF Generation vor dem Hintergrund der Studentenunruhen der 1960er Jahre, wobei der Tod des Germanistikstudenten Benno Ohnesorg gewissermaßen als Katalysator wirkte. Hier wird Sontheimer auch erstmals seinem Anspruch gerecht, die Persönlichkeiten der Protagonisten genauer auszuleuchten. Von Gudrun Ensslin erfahren wir beispielsweise, dass sie sich vor ihrer Radikalisierung für "eine Initiative zur Unterstützung der SPD" einsetzte. Auch der Gewinn aus den Interviews wird hier für den Leser erstmals greifbar. Ulrike Meinhofs Verleger Klaus Wagenbach berichtet etwa über einen Versuch, ihr den Gedanken des bewaffneten Kampfes auszureden. Seine völlige Erfolglosigkeit zeigt auf sehr anschauliche Weise, wie die führenden Mitglieder der RAF nahezu gänzlich in ihrem eigenen Anschauungskosmos gefangen waren.

Das dritte Kapitel widmet sich nun den ersten größeren Aktionen der RAF, die nach einem Intermezzo im Nahen Osten aus dem Untergrund heraus agierte. Einen kleineren Widerspruch bildet hier der Umstand, dass Sontheimer zunächst von einer Hilflosigkeit von Polizei und Justiz infolge der guten Organisation der RAF spricht und dann eine Seite weiter aussagt: "In Wahrheit musste die Gruppe ständig improvisieren" (55). Aufgrund dieses Umstandes war vor allem die Führung der Gruppe ständig in Bewegung. Die Geschichte der ersten Generation der RAF, formuliert es Sontheimer daher überspitzt, "trägt auch Züge eines Roadmovies" (45).

Im vierten Kapitel beschreibt der Autor die Übergangsphase zwischen der Inhaftierung der ersten Generation und der Organisation einer zweiten, deren Ziel Mitte 1976 einzig die Befreiung ihrer Vorgänger war. Der Tod Holger Meins' während der Hungerstreiks 1973, hält der Verfasser anhand seines Gesprächs mit Karl-Heinz Delwo fest, avancierte zum Schlüsselereignis der zweiten Generation. Drastisch führt Sontheimer uns hier zudem die Mentalität der Gruppe vor Augen, wenn sogar der Suizid Meinhofs noch zum "staatlichen Mord" (78) stilisiert wird.

Die folgenden drei Kapitel schildern die im Rahmen des Aktionszyklus "Offensive 77" verübten Verbrechen. Hier überrascht vor allem Sontheimers Befund hinsichtlich der Angewohnheit der RAF, missglückten Unternehmen einen nachträglichen Sinngehalt zuzuschreiben. Als etwa die geplante Entführung Jürgen Pontos unerwartet mit dessen Ermordung endete, schrieb Mohnhaupt ein Traktat, in dem das Malheur gar als Notwendigkeit dargestellt wurde. Die thematisch zugehörige Schleyer-Entführung, welcher die Behörden mit einer Hinhaltetaktik begegneten, beschreibt Sontheimer in einem gesonderten sechsten Kapitel bis ins Detail. Das hierbei mehrfache Ignorieren stichhaltiger Hinweise auf das erste Versteck der RAF in Erftstadt bewertet der Autor nicht als eine "Fahndungspanne, sondern [als] ein Desaster" (109). Im Hinblick auf die "Todesnacht von Stammheim", die aus der gescheiterten Entführung der "Landshut" resultierte, nimmt der Autor eine vermittelnde Position ein. Ob es nun Mord, Selbstmord oder Suizid unter staatlicher Billigung war, kann der Leser für sich entscheiden. Umso klarer sieht der Autor dafür die Konsequenzen: Die Bundesrepublik "hatte ihre größte innenpolitische Herausforderung bewältigt" (135), die RAF hatte "eine totale Niederlage erlitten" (136).

Das achte Kapitel beschreibt das Exil und die Zerschlagung der zweiten Generation gegen 1982 infolge "ernster Auflösungserscheinungen" (146), ehe der vorletzte Abschnitt sich der letzten Generation der RAF widmet. Von den beiden Gründen, die der Autor für den Fortbestand anführt, überzeugt nur der, dass man eine Niederlage generell nicht eingestehen wollte. Dass die RAF, "so wie ihre Väter im Krieg" (154), nicht kapitulieren wollte, überzeugt nicht. Vielmehr waren die meisten Väter - man denke nur an die Väterliteratur der 70 Jahre, zu deren Vertreter auch Ensslins einstiger Lebensgefährte Bernward Vesper gehörte - nach Ende des Krieges ihren Familien fremd geworden, dienten also keineswegs als Identifikationsfiguren. Überzeugend zeigt der Autor indes, wie insbesondere auch die Inflexibilität der Behörden zur Genese einer dritten Generation beitrug.

Das abschließende Kapitel nutzt Sontheimer, um die Aufarbeitungsproblematik differenziert zu erörtern, deren Leidtragende in erster Linie die Nachkommen der Opfer sind. Solange wichtige Quellen, wie die Aussagen Verena Beckers, nicht ihrem Sperrzustand enthoben werden, kann Michael Sontheimers Fazit gelten: "Die RAF existiert nicht mehr, aber sie ist noch da" (189).

Zu kritisieren ist Sontheimers Belegtechnik. Das Buch wird zwar durchaus von sinnvollen Einzelnachweisen durchzogen, aber eben nur stellenweise. So wird uns Klaus Jünschkes Einschätzung über die Bedeutung des Vietnamkrieges zuteil ("Ohne den Vietnamkrieg hätte es uns nie gegeben" (32)), aber weder steht dort ein Beleg, noch fällt sein Name im Register der Interviewten. Wann und wo hat er diese Aussage also gemacht? Auch in sprachlicher Hinsicht fällt ein Kritikpunkt an. Der grundsätzliche, durch viele Vergleiche und Metaphern erzielte Spannungsaufbau ist alleine noch kein Problem. Ulrike Meinhofs Flucht aus dem Fenster der Miquelstraße etwa als "Sprung in die Finsternis" (15) zu verbildlichen, erscheint noch als nachvollziehbar. Ob der Schuss in den Kopf Benno Ohnesorgs zum "Schuss in viele Köpfe" (27) werden sollte, die RAF Mitglieder "Freaks aus Deutschland" (42) heißen müssen oder vom "Knast" (79) gesprochen werden sollte, ist aber fragwürdig.

Dieser Anmerkungen ungeachtet kann Sontheimers Buch als gelungene Kompaktdarstellung der RAF gesehen werden. Sehr gut wird der Autor seinem Anspruch gerecht, die Persönlichkeiten der Protagonisten greifbar zu machen, etwa, wenn wir vom durch Ensslin geradezu vergöttlichten Baader erfahren, dass er sich inmitten der gegen die schlechte Behandlung von RAF-Inhaftierten organisierten Hungerstreiks ein Brathähnchen bringen ließ, während Holger Meins in Wittlich dem Hungertod erlag. Ansonsten ist das durch ein Personenregister, ein Literaturverzeichnis und 35 Abbildungen bereicherte Buch gerade aufgrund seiner plastischen Personenbeschreibungen eine durchaus empfehlenswerte Einstiegslektüre.

Marc Bauer