Rezension über:

Maarten van Driel / Meinhard Pohl / Bernd Walter (Hgg.): Adel verbindet - Adel verbindt. Elitenbildung und Standeskultur in Nordwestdeutschland und den Niederlanden vom 15. bis 20. Jahrhundert (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 64), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 295 S., ISBN 978-3-506-76901-5, EUR 38,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Florian Schönfuß
Deutsches Historisches Institut, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Florian Schönfuß: Rezension von: Maarten van Driel / Meinhard Pohl / Bernd Walter (Hgg.): Adel verbindet - Adel verbindt. Elitenbildung und Standeskultur in Nordwestdeutschland und den Niederlanden vom 15. bis 20. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 2 [15.02.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/02/19063.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Maarten van Driel / Meinhard Pohl / Bernd Walter (Hgg.): Adel verbindet - Adel verbindt

Textgröße: A A A

Es ist wenig neu an der Feststellung, dass der Adel als "europäisches Phänomen von langer Dauer" den überregionalen, internationalen und epochenübergreifenden Vergleich in besonderem Maße erfordert (1). Blickt man allerdings auf die verschiedenen Adelslandschaften längs - und eben auch quer - zur heutigen deutsch-niederländischen Grenze, so scheinen diese in der Tat allzu lange weit außerhalb einer solchen Forschungsperspektive gelegen zu haben. Diesem Umstand möchte der vorliegende Band, der die Ergebnisse einer dreiteiligen Tagungsreihe zur nordwestdeutschen und niederländischen Adelsgeschichte vereint, abhelfen und damit auch zu einem intensiveren Austausch der in mancherlei Hinsicht unterschiedlich ausgerichteten Forschungstraditionen beider Länder anregen.

Über diesen umrahmenden Ansatz hinaus skizziert B. Walter in seinem einleitenden Aufsatz die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bindekräfte des Adels beiderseits der Grenze, sensibilisiert jedoch zugleich für deren "differenzstiftende Funktion" (2), womit er die zentrale Frage nach den adeligen Anpassungsmechanismen an potenziell trennkräftige Prozesse wie Konfessionalisierung, Territorialstaatsbildung und Nationalismus aufwirft. In Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand ist er im Weiteren darum bemüht, aktuelle Fragestellungen der Adelsforschung auch zur Analyse von historischen Entwicklungen über die Geschichte einzelner Geschlechter und Standespersonen hinaus für das Untersuchungsgebiet nutzbar zu machen. Die besonderen Chancen, und damit die Legitimation, von Adelsforschung erblickt man hier also, einmal mehr, in ihrer Anwendbarkeit als "Sonde" zur Ausleuchtung breiterer Themenspektren - ein Konzept, das der Band ausdrücklich aufgreifen möchte (3).

Grenzüberschreitende Wirkung misst der Beitrag von W. Frijhoff in erster Linie der distinktiven Adelskultur des frühneuzeitlichen Europas zu, deren enorme Strahlkraft er zuvorderst am Beispiel des Hauses Oranien herausarbeitet. Gerade die bürgerliche Elite der Niederlande habe sich im Zuge ihrer Aristokratisierung allerdings wesentliche Elemente jenes adeligen Lebensstils zu eigen gemacht, während die eigentlichen Kohäsionskräfte der Adelslandschaften zwischen Niederrhein, Münsterland und den östlichen Niederlanden nicht nur verwandtschaftlich-dynastischen und wirtschaftlichen, sondern primär kulturellen Ursprungs gewesen seien. Demgegenüber stehen bei L. Berkvens zentrifugale Strömungen im Vordergrund, nämlich jene der freien adeligen Herrlichkeiten zwischen Maas und Rhein im Ringen um Selbständigkeit gegenüber regional dominierenden Mächten wie Spanisch Geldern oder dem Herzogtum Jülich. Von der Mitte des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts lotet er die schwindenden Spielräume der teils winzigen Adelsherrschaften vor dem Hintergrund territorialer Staatsbildungsprozesse aus. Neben einer geschickten Handhabung bestimmter Rechtsfiguren und der gekonnten Repräsentation der eigenen Souveränität sei vor allem das Streben nach Aufnahme in den Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis und damit die Anerkennung der Reichsunmittelbarkeit von entscheidender Bedeutung für jene Herrlichkeiten gewesen, die ihre Eigenständigkeit letztlich wahren konnten.

Ähnlich eng verwoben mit der Frage nach Selbstverständnis und Herrschaftsauffassung des regionalen Adels ist der Beitrag von D. Scheler, der das Verhältnis von Landesherr und adeligem Amtmann in den niederrheinischen Herzogtümern des 15. und 16. Jahrhunderts in den Blick nimmt. Ließen die dortigen Landesherren ihren Amtmännern - zumeist gleichzeitig ihren Gläubigern - notgedrungen große Freiräume bei der Amtsführung, so vermochten sie den Bestrebungen des Adels, aus den Ämtern eigene Unterherrschaften zu bilden, was offenbar adeliges Ideal blieb, doch fast immer erfolgreich zu trotzen. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht beschäftigt sich der Artikel von H. Tervooren mit Buchsammlungen und ihrem Stellenwert für die adelige Repräsentations- und Geselligkeitskultur. Anhand verschiedener Adelsgeschlechter aus dem Gebiet zwischen Rhein, Maas und Ijssel verdeutlicht er, wie mannigfaltig die Beweggründe zum Sammeln von Büchern an der Wende vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit sein konnten.

Die Repräsentation des Adels durch die Landstände rückt G. Venner in den Mittelpunkt, dessen Untersuchung der Ritterschaft des geldrischen Oberquartiers im 17. Jahrhundert eine merkliche personelle Ausdünnung derselben aufgrund strenger Einhaltung einer durch Ahnenproben gesicherten Exklusivität ergibt. W. Löhr versucht sich an einer Betrachtung der langwährenden Streitigkeiten verschiedener Zweige des aus dem deutsch-niederländischen Grenzraum stammenden Geschlechts derer von Bylandt um die Jülicher Unterherrschaft Rheydt, die sich leider fast völlig in genealogischen Details und familiären Anekdoten erschöpft. Ebenfalls weitgehend deskriptiv bleibt der Beitrag von B. Olde Meierink, der die architektonische Formensprache zahlreicher Adelssitze beiderseits der Grenze rekonstruiert.

Der Adelssitz steht auch im Fokus des Interesses von H. Düselder, hier jedoch als zentraler Ort der adeligen Lebenswelten, der soziale Netzwerke wie wirtschaftliche Verflechtungen, adeliges Standesbewusstsein wie regionale und rurale Identität bündelte und vermittelte. Den komplexen Mikrokosmos des Adelshauses dokumentiert sie mithilfe verschiedener Beispiele aus dem Oldenburgischen sowie dem Ost- und Westfriesischen in all seiner Vielfalt, was nicht zuletzt die Wahrnehmung durch Diener und Untertanen mit einschließt. Im Gegensatz zu diesem bereits recht umfassend vermessenen Forschungsfeld betritt M. Rasch mit seinen Untersuchungen zum adeligen Unternehmertum des 18. und 19. Jahrhunderts weitgehend terra incognita. In vier verschiedenen Wirtschaftssektoren - Kohle, Stahl, Chemie und Dienstleistung - spürt er einer bemerkenswerten Vielzahl adeliger bzw. geadelter Unternehmer Westfalens nach, unter denen er sogar einige "Erfinderunternehmer" (197) ausmachen kann. Über weite Strecken leistet der Beitrag zunächst eine summarische Erfassung der einzelnen Beispiele und wirft darüber hinaus einzelne Schlaglichter auf bedeutende Aspekte übergeordneter Natur, wie adelige Unternehmerinnen oder den Aktienbesitz des Adels. Insgesamt indiziert er jedoch vor allem die weitklaffenden Forschungslücken im Bereich Adel und Wirtschaft, für deren baldige Schließung Rasch wirbt.

Damit ist der Band längst in der Moderne angekommen, die auch S. Marburg als Beobachtungszeitraum für einen Vergleich des adeligen Kulturmodells in Nordwestdeutschland und Sachsen dient. Im Kern geht es ihr darum, die Fruchtbarkeit des viel diskutierten Forschungsansatzes der adeligen Binnenkommunikation, den sie im wesentlichen anhand einiger sächsischer Beispiele erläutert, für die Vermessung weiterer Adelslandschaften zu verdeutlichen. Freilich käme dafür auch der Adel der Niederlande insgesamt in Betracht, dessen Verhältnis zu Nation und Staat Y. Kuiper für das 19. und 20. Jahrhundert beleuchtet. Auf einschlägige Literatur kann er sich dabei allerdings kaum stützen, werde dem Adel in der niederländischen Forschung doch bis dato verhältnismäßig wenig Beachtung geschenkt, ein Dilemma, das trotz der neuerlichen Einführung des Konzepts einer Notabelenelite weiterhin bestehe. Charakteristisch sei die rasche Verschmelzung des "alten" mit einem neuen, nationalen Adel, der durch die Nobilitierungspraxis König Wilhelms I. ab 1814 entstanden ist. Die deutliche Überrepräsentation des Adels in Verwaltung, Justiz, Diplomatie sowie in Führungspositionen der Wirtschaft relativiere das "Klischeebild der bürgerlichen Niederlande" (229) spürbar. Auch politische Weichenstellungen wie die Thorbeck'sche Verfassungsreform von 1848, die nahezu alle Adelsprivilegien wieder abschaffte, dürften hierüber nicht hinwegtäuschen.

Ein weiteres besonderes Charakteristikum des niederländischen Adels im 20. Jahrhundert wird durch die umfangreichen sozialstatistischen Erhebungen J. Dronkers' erhärtet. Gemeint ist ein im Vergleich zum deutschen Adel merklich geringeres Maß an Homogamie, was er auf eine "modernere Adelsauffassung" (251) und einen geringeren Anteil von Geschlechtern feudalen Ursprungs und höheren Ranges zurückführt. Den Abschluss markiert E. Conzes Aufsatz zum Thema "Adel, Staat und Gesellschaft im 20. Jahrhundert", der zunächst großflächig die Befunde neuerer Studien zusammenfasst. Auf dieser Basis gelingt es Conze in bestechender Klarheit, die politische Radikalisierung eines bedeutenden Teils des deutschen Adels in der Weimarer Republik und seine Hinwendung zum Nationalsozialismus begreifbar zu machen. Im Antisemitismus und Antimodernismus gerade des sozial erodierenden Adels erkennt er die wirkmächtigsten Amalgame mit der NS-Bewegung, die durch ihre Versprechen auf Wiederaufstieg und distanzsichernde Karrieremöglichkeiten im Elitekorps der SS weitere Anziehungskräfte habe entfalten können. Eben solche habe nach der Erfahrung der totalen Niederlage aber auch die Bundesrepublik auf den Adel ausüben können, wobei dem Wirtschaftswunder und den Möglichkeiten zur kulturellen Distinktion große Tragweite zukomme.

So endet der Band in chronologischer Folge der einzelnen Beiträge, die eine Spanne von insgesamt sechs Jahrhunderten abdecken und nicht nur dahingehend ein sehr heterogenes und doch scharfes Bild adeliger Lebenswelten längs und quer der deutsch-niederländischen Grenze vermitteln. Gewiss fragt man sich, ob ein engerer Untersuchungszeitraum nicht konzentriertere und repräsentativere Ergebnisse ermöglicht hätte, eben weil der Band jene zu Beginn apostrophierte Sondenfunktion nicht immer erfüllen kann. Angesichts mangelnder Grundlagenforschung, die von etlichen Artikeln konstatiert wird, handelt es sich oft eher um perspektivische Bestandsaufnahmen, die den Weg zu weitergehenden Forschungen weisen. Diesem Anspruch wird der Band jedoch in genauso hervorragender Weise gerecht wie der Beförderung des wissenschaftlichen Austauschs im deutsch-niederländischen Kontext.

Florian Schönfuß