Rezension über:

Ivor Roberts (ed.): Satow's Diplomatic Practice. Sixth Edition, Oxford: Oxford University Press 2009, LVI + 730 S., ISBN 978-0-19-955927-5, GBP 110,00
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Rezension von:
Holger Berwinkel
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Holger Berwinkel: Rezension von: Ivor Roberts (ed.): Satow's Diplomatic Practice. Sixth Edition, Oxford: Oxford University Press 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 2 [15.02.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/02/17336.html


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Ivor Roberts (ed.): Satow's Diplomatic Practice

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Außenpolitik setzt Ziele, Diplomatie setzt sie um. Ihr Monopol hat die klassische Diplomatie längst verloren, auf absehbare Zeit wird sie aber das wichtigste außenpolitische Werkzeug bleiben. Kennzeichnend für die Diplomatie und die damit beauftragten Auswärtigen Dienste ist eine ausgeprägte, historisch gewachsene Eigengesetzlichkeit, die dem hohen Veränderungsdruck einer sich schnell ändernden Welt gegenübersteht. Die Außenpolitik muss sich dieser Formen bedienen und erhält dadurch einen Teil ihrer Gestalt. Eine rein theoriegetriebene Betrachtung der internationalen Beziehungen, welche die diplomatische Praxis außer Acht lässt, läuft darum leicht Gefahr, zu verkürzten Ergebnissen zu gelangen. Deshalb kann ein normatives Handbuch der Diplomatie auch Historikern gute Dienste zum Verständnis des Gegenstandes leisten.

Der "Satow" ist der Klassiker unter diesen Handbüchern, in erster Auflage 1917 erschienen. Sir Ernest Mason Satow (1843-1925), ein hoch gebildeter und literarisch aktiver britischer Diplomat deutscher Abstammung, zog darin eine erfahrungsgesättigte Summe seiner glänzenden Laufbahn. Das Werk wurde rasch kanonisch, und nach Satows Tod fanden sich immer wieder britische Diplomaten im Ruhestand, um aktualisierte Neuauflagen zu betreuen. Die von Lord Gore-Booth herausgegebene 5. Auflage erschien 1979; nach 30 Jahren meinten der Herausgeber der nun vorliegenden 6. Auflage - Botschafter a. D. - und sein Team aus dem Umfeld der Rechtsabteilung des Foreign and Commonwealth Office an der überkommenen Textsubstanz sei eine "radical surgery" nötig. Das war zweifellos berechtigt, und das Ergebnis überzeugt.

Dass die Diplomatie seit 1979 wesentlich komplexer geworden ist, lässt sich bereits am von 550 auf fast 800 Seiten angeschwollenen Umfang ablesen. Überflüssiges findet der Leser dabei nicht. Der Stoff wurde in zehn Bücher und kleinteilige Kapitel gegliedert. Das erste Buch widmet sich knapp den Grundlagen und der Geschichte der Diplomatie. Von den geschichtlichen Passagen des Werkes sollten sich Fachhistoriker allerdings nicht zuviel versprechen. Fachliteratur wurde kaum benutzt, die Emser Depesche wird anhand der Encyclopedia Britannica abgehandelt (624). Wesentlich ergiebiger, wenn auch - im Zeitalter der E-Mail - gegenüber der Vorauflage gekürzt, sind die Ausführungen zum diplomatischen Sprachgebrauch und den Formen des Schriftverkehrs, den Noten und Verbalnoten.

Der inhaltliche Kern beginnt mit den Büchern II bis V, die sich mit Theorie und Praxis der diplomatischen Beziehungen, des Austausches diplomatischer Vertretungen, der Privilegien und Immunitäten des Personals und der konsularischen Beziehungen befassen. Historiker müssen sich hier auf einen Perspektivwechsel einlassen: Die manchmal quälend detaillierte Exegese des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen von 1961 mag zunächst befremden, solche Feinheiten und Formalitäten sind aber essentiell für das operative diplomatische Geschäft. Der "Satow" erschließt die Akteursperspektive, und darin liegt der Wert des Buches für Historiker, die die diplomatische Arbeitspraxis nachvollziehen wollen. Glücklicherweise haben die Herausgeber die Tradition des "Satow" beibehalten, die Darstellung mit einer Fülle von instruktiven Fallbeispielen zu grundieren. Gegenüber der Vorauflage wurde gerade hier beträchtlich modernisiert. Mehrmals wird z.B. der Fall der Todesschüsse aus der libyschen Botschaft in London 1984 (z. B. 103, 107, 138, 213) herangezogen. Als Quelle verweisen die Bearbeiter regelmäßig auf die Times, dahinter kann aber intimere Vertrautheit vermutet werden. Auch bizarre Vorkommnisse sind Teil der Realität (z. B. 117, 127 oder 213). Und die verbliebenen Beispiele aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert belegen eindrucksvoll typische Kontinuitäten der diplomatischen Formen.

Buch IV als umfangreichster Teil ist den internationalen Organisationen gewidmet und damit der Multilateralisierung als hauptsächlicher Entwicklungstendenz der Diplomatie der letzten Jahrzehnte. Konnte die Auflage von 1979 die EG und die NATO noch unter "some regional organisations" abhandeln - eigene Kapitel bekamen nur die Vereinten Nationen und das Commonwealth (!) -, so ist die Darstellung nun ganz in der Gegenwart angekommen. Auch hier werden völkerrechtliche Theorie und diplomatische Praxis instruktiv kontrastiert. Knapper, aber umso interessanter sind die erweiterten Ausführungen zu den internationalen Gerichtshöfen (VII) und das Kapitel zu Nichtregierungsorganisationen (VIII), die Entwicklungen seit dem Völkermord in Ruanda und den ersten Weltklimakonferenzen aufgreifen. Die Skepsis der Berufsdiplomaten gegenüber dem tatsächlichen Einfluss der Nichtregierungsorganisationen ist dabei mit Händen zu greifen.

Buch IX beleuchtet Regierungsverhandlungen, Vertragsschlüsse und die verschiedenen Formen internationaler Abkommen vom Staatsvertrag bis zum Notenwechsel. Als Hilfsmittel zur Auswertung diplomatischer Akten ist es schon im Interesse begrifflicher Genauigkeit wertvoll.

Der klassische "advice to diplomats", der scheinbar in jeder Auflage anders eingeordnet wird, bildet diesmal den Schluss des Werkes. Hier geht es um das praktische Handwerk des Diplomaten; es ist bezeichnend, dass auch hier "radical surgery" an dem bis in das Spätmittelalter zurückreichenden Beispielschatz des "Ur-Satow" geübt wurde. Mit Recht kommen moderne Klassiker der diplomatischen Literatur wie Harold Nicholson zu Ehren, aber ein Wehmutstropfen sei erlaubt, sind doch der Weltsprache Englisch nun die einst zahlreichen Exempel in anderen Sprachen zum Opfer gefallen: In der Auflage von 1979 stand noch ein Bismarck-Zitat im deutschen Original zu lesen.

Der enzyklopädische Charakter des Werkes lädt eher zum Nachschlagen denn zum Lesen von der ersten zur letzten Seite ein. Dabei hat das Autorenteam das Kunststück einer einheitlichen und gut lesbaren Umsetzung der spröden Materie bewerkstelligt; einzelne Überschneidungen zwischen den Kapiteln (z. B. 26 und 27) stören nicht. Unvorteilhaft ist aber das - wie schon in der Vorauflage - grobmaschige Register. Der Rezensent konnte die Belege für "Germany" mühelos vervielfachen, auch um wichtige Verweise etwa auf die Hallstein-Doktrin (217) und die Ermordung des bundesdeutschen Botschafters in Guatemala, Karl von Spreti, im Jahr 1970 (238, im instruktiven Kapitel über die Bedrohung von Auslandsvertretungen durch den Terrorismus).

Der "Satow" dient in der Diplomatenausbildung zahlreicher Staaten - allerdings weder in Großbritannien noch in Deutschland - als Lehrbuch. Eine Neuauflage war nach 30 Jahren nötig, auch wenn sie absehbar rasch veralten wird: So konnten die Kapitel 26 und 27 über die EU den Vertrag von Lissabon noch nicht berücksichtigen. Aus der Perspektive der Historiker ist dieser Mangel nicht gravierend. Für sie ist das Werk als Momentaufnahme der Funktionsweise der Diplomatie aus der praxisbezogenen Sicht der Akteure wertvoll - was angesichts der 30 Jahre währenden Sperrfrist für Behördenakten auch noch für die Vorauflage von 1979 gilt!

Holger Berwinkel