Rezension über:

Thomas Klein: SEW - Die Westberliner Einheitssozialisten. Eine "ostdeutsche" Partei als Stachel im Fleische der "Frontstadt"?, Berlin: Ch. Links Verlag 2009, 310 S., ISBN 978-3-86153-559-1, EUR 29,90
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Rezension von:
Siegfried Heimann
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Siegfried Heimann: Rezension von: Thomas Klein: SEW - Die Westberliner Einheitssozialisten. Eine "ostdeutsche" Partei als Stachel im Fleische der "Frontstadt"?, Berlin: Ch. Links Verlag 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 10 [15.10.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/10/17039.html


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Thomas Klein: SEW - Die Westberliner Einheitssozialisten

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Der Stellenwert einer wissenschaftlichen Untersuchung über den Westberliner Ableger der in der DDR regierenden Staatspartei und auch trotz wiederholter Umbenennung (seit 1958) stets nur scheinbar unabhängigen Kleinstpartei erschließt sich nicht sofort. In mehreren Darstellungen ist die politische Einflusslosigkeit der SEW, deren doktrinäre Programmatik und Praxis, vor allem aber deren politische Fernsteuerung und finanzielle Abhängigkeit von der DDR überzeugend nachgewiesen worden. Dem Autor, als Zeithistoriker durch einige beeindruckende Studien zu Fragen des Stalinismus und zur Opposition in der DDR bestens ausgewiesen, geht es jedoch um eine Fragestellung, die seit 1990 erneut thematisiert wurde, ohne hinreichend beantwortet worden zu sein.

Thomas Klein will die "tatsächliche Wirkungskraft" (9) der in Westberlin seit 1946 stets legal tätigen SED/SEW und ihrer Jugendorganisation FDJ auf die in den 1960er Jahren entstehende linksalternative Protestbewegung bis hin zur Friedensbewegung der achtziger Jahre untersuchen. Nach 1990 wurde von einigen Autoren behauptet, die linksalternative Protestbewegung und die Friedensbewegung in der Bundesrepublik seien durch die SED aus der DDR ferngesteuert worden, in Westberlin mit Hilfe ihres Westberliner Ablegers. In der ausführlich belegten Überprüfung dieser Behauptung liegt der wissenschaftliche Wert der Monographie.

Klein macht ohne Einschränkung deutlich, dass die SED, später SEW, in Westberlin schon in den frühen 1950er Jahren eine "isolierte Splitterpartei" (60) geworden war und das auch bis zu ihrem Ende im Jahre 1990 blieb. Wenn die Partei ein "Stachel" war, dann sicher ein sehr kleiner. Ausgehend von seiner Fragestellung, wieweit die "Wirkungsmacht" der politischen Einflussnahme der SED und seines Westberliner Ablegers SEW reichte, sind drei längere Exkurse besonders gelungen. Zunächst prüft Klein den seit 1990 mehrfach behaupteten angeblichen "operativen Infiltrationserfolg" der SEW (bzw. der DKP) im Hinblick auf die Studentenbewegung der 1960er und 19870er Jahre und auf die Friedensbewegung der 1980er Jahre. Sodann falsifiziert er die Hypothese, die Bundesrepublik sei ob dieses angeblichen Erfolgs zu Recht eine "unterwanderte Republik" zu nennen und deren Geschichte müsse deshalb neu geschrieben werden.

Der Autor betont, dass angesichts so vieler inzwischen bekannter Informeller Mitarbeiter (IM) der Stasi in zahlreichen Organisationen der Bundesrepublik ein ernsthafte Prüfung erforderlich sei. Von der Existenz der Stasi-Mitarbeiter umstandslos auf eine erfolgreiche Steuerung dieser Organisationen zu schließen, sei jedoch wissenschaftlich wenig seriös. Er kommt nach einer überzeugenden Argumentation zu einem vernichtenden Urteil über die Historiker, die so fadenscheinig belegte Hypothesen in Umlauf gebracht haben.

Das beginnt bei dem angeblich gesteuerten Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), der in der Studentenbewegung der 1960er Jahre eine wichtige Rolle spielte. Das Ergebnis der Analyse fällt eindeutig aus. Die DDR-Machthaber hatten spätestens 1967 begriffen, dass "der SDS nicht als potentielle Bündnis-, sondern eher als Feindorganisation anzusehen" (179) war. Das galt umso mehr nach dem 21. August 1968, als besonders in Westberlin der SDS jede Zusammenarbeit mit der SEW oder FDJ ablehnte, wenn diese nicht den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die ČSSR "verurteilten" (183). Ähnliche Belege bringt Klein auch für andere Organisationen in Westberlin wie etwa den Republikanischen Club, obwohl auch dieser eine Reihe von IMs in seinen Reihen hatte.

In den späten 1970er und beginnenden 1980er Jahren waren SED/SEW noch mehr an der erfolgreich agierenden Friedensbewegung interessiert. Die neue Friedensbewegung bescherte der SEW in Westberlin und der DKP in der übrigen Bundesrepublik sogar einen "kurzen Aufschwung" (233). Das bedeutete jedoch keinesfalls, dass sich dieser Aufschwung in wachsenden Mitgliederzahlen, geschweige denn in Wählerstimmen niederschlug. Im Gegenteil, die Talfahrt bei den Wahlen zum Westberliner Abgeordnetenhaus ging noch weiter. Die wenigen neuen Mitglieder waren aus der Sicht der Parteiführung eher ein "Risikopotential" (169), dem mit einer rigiden Ausschlusspolitik begegnet werden sollte. Von einem Einfluss auf die linksalternative Szene in Westberlin konnte auch keine Rede sein, obwohl die Zahl der IMs gewachsen war. Als die inzwischen entstandene Partei "Die Grünen" bzw. die Alternative Liste in Westberlin Solidarität mit der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR forderten, war die Zeit der Lippenbekenntnisse über eine mögliche Zusammenarbeit schnell vorbei. In den späten 1980er Jahren nahm die Distanz zu der linken Szene weiter zu. Der sogenannte "Häuserkampf" in Westberlin bedeutete für die SEW eine weitere Hürde für eine eigentlich gewollte Bündnispolitik: "Für Parteien wie die SED oder die SEW waren 'Autonome' unbegreiflich und die Abneigung gegenseitig." (242)

In mancher Hinsicht ist das Buch von Klein allerdings ein Schnellschuss. Der Autor versucht, das engere Thema seiner Darstellung, die Geschichte der SEW, sehr holzschnittartig in den größeren Zusammenhang der Geschichte der Bundesrepublik einschließlich Westberlins einzuordnen. Zur Geschichte des politischen Systems und zur Geschichte der politischen Parteien gibt es eine Fülle von umfassend informierender Sekundärliteratur, die nicht mit herangezogen wurde. Nur so sind wohl auch manche kleinere und größere Fehler besonders über die weitgehend unbekannte Geschichte der SPD in Ostberlin, aber auch Fehleinschätzungen der politischen Entwicklung zu erklären. Die Darstellung der Geschichte der SPD nach 1945 ist sehr summarisch und darum auch oft schief geraten. So bekämpfte die SED die SPD nicht erst seit der Verabschiedung des Godesberger Programms im Jahre 1959 als "Partei des Verrats an der Sache der Arbeiterklasse" (99). Es geht auch an den realen Problemen der bundesdeutschen Nachkriegsentwicklung vorbei, wenn aus den skandalösen Nachkriegskarrieren früherer Nazis auf eine "Renazifizierung der Justiz in Westdeutschland" (39) geschlossen wird. Es reicht nicht, diese pauschale Behauptung in einer Fußnote etwas zu differenzieren.

Hinsichtlich seiner Fragestellung kommt der Autor jedoch zu einer akribisch belegten und überzeugenden Antwort. Von einer auch nur ansatzweise erfolgreichen Fernsteuerung von Organisationen und Gruppen der linksalternativen Szene in der Bundesrepublik einschließlich Westberlins kann keine Rede sein. Für den Autor bleibt daher die Frage bestehen, warum es nach 1990 erneut zu einer solchen Konjunktur von Unterwanderungshypothesen kam. Auch dafür hat Thomas Klein eine Antwort: "Der anklagende Gestus in der Rede von einer aus der DDR 'gesteuerten' Friedensbewegung, der 'unterwanderten Studentenbewegung' [...] folgt eher einem politisch-ideologischen Impetus als einem zeithistorisch-investigativen Interesse." (253f.)

Siegfried Heimann