Rezension über:

Benno Gammerl: Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867-1918 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 189), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 400 S., ISBN 978-3-525-37011-7, EUR 57,00
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Rezension von:
Birgitta Bader-Zaar
Institut für Geschichte, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Birgitta Bader-Zaar: Rezension von: Benno Gammerl: Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867-1918, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 10 [15.10.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/10/16322.html


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Benno Gammerl: Untertanen, Staatsbürger und Andere

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Studien zu Staatsbürgerschafts- und Migrationsrecht sowie zur Politik der Naturalisierung haben seit den frühen 1990er Jahren Konjunktur. Neben der Hervorhebung der historischen Komplexität von citizenship haben sie sich auch immer wieder der Methode der Komparatistik bedient. Benno Gammerl präsentiert nun mit seiner Dissertation über die Beziehungen ethnischer Differenz zu Staatsangehörigkeit und staatsbürgerlichen Rechten im britischen Empire und in der Habsburgermonarchie einen ganz neuen Blick auf diese Thematik. Beide Reiche sahen sich im Zeitraum 1867 bis 1918 mit der Frage des Zusammenhalts von ethnisch divergierenden Territorien vor dem Hintergrund von Nationalismus und politischen Partizipationsforderungen konfrontiert. Deren Gegenüberstellung sei gerade wegen ihrer "gegensätzlichen Konzeptionen von Imperialität", unterschiedlichen Rechtstraditionen sowie ökonomischen und machtpolitischen Grundlagen von Interesse (15).

Gammerl wendet sich gegen die häufige Dichotomisierung von citizenship - als Gegensatz zwischen Geburtsortprinzip (ius soli) mit politischer Inklusion und Abstammungsprinzip (ius sanguinis) mit ethnischer Exklusion -, die mit dem Kontrast eines "moderneren" westlichen und eines "rückständigen" östlichen Europas verknüpft wird. Er hält fest, "dass es in imperialen Formationen verschiedene Möglichkeiten gab, mit ethnischer Heterogenität umzugehen" (22), die sich auch vermischen konnten, und unterscheidet drei Logiken oder Denk- und Handlungsmuster des Rechts und der administrativen Praxis in der Behandlung ethnischer Differenz: 1) das auf Homogenisierung und Integration abzielende nationalstaatliche Muster, 2) der territorial definierte etatistische Zugang, der an effizienter Kontrolle vor allem in Hinblick auf Einhaltung der Wehrpflicht, aber auch ethnischer Gleichberechtigung interessiert war, sowie 3) der imperialistische Ansatz, der ethnischer Differenz diskriminierend gegenüber trat und diese hierarchisierte.

Diese Logiken untersucht Gammerl näher anhand des Staatsangehörigkeitsrechts, das neben der Frage der (Nicht-)Berücksichtigung ethnischer Unterschiede auch den Status von mit Ausländern verheirateten Frauen beachtet, des Einwanderungsrechts und der Praxis von Einbürgerungen sowie des Staatsbürgerschaftsrechts im Sinne des Zugangs zu politischen und sozialen Rechten. Dabei strukturiert er seine Untersuchung in zwei Abschnitte und stellt zuerst Teile der beiden Beispielimperien einander gegenüber, um danach nach Phasen, in denen eine der drei Logiken Recht und administrative Praxis dominierte, zu fragen. Dieser Aufbau hat notwendigerweise Wiederholungen zur Folge, ist aber wesentlich für die Gesamteinschätzung.

Im territorial orientierten Zugang kommt der Autor zum Schluss, dass Kanada und die ungarische Reichshälfte der Habsburgermonarchie weitgehend der nationalstaatlichen Logik in imperialen Kontexten folgten, wenn auch in Ungarn teilweise inklusive und in Kanada exklusive Mechanismen, insbesondere gegenüber Indigenen und asiatischen Einwanderern, von Bedeutung waren. Im Fall der österreichischen Reichshälfte und Indiens überwog hingegen die etatistische Logik mit ethnisch neutraler Politik, wobei in Indien auch imperialistische Tendenzen sichtbar werden. Für Ostafrika und Bosnien-Herzegowina lässt sich am ehesten die imperialistische Logik anwenden, im bosnischen Fall allerdings ohne rassistische Differenzierung. Das britische Königreich entzieht sich hingegen einer klaren Zuordnung und weist sowohl das etatistische Prinzip ethnischer Neutralität als auch ein imperialistisches Muster der Diskriminierung auf.

Die Wahl der Vergleichsobjekte mag irritierend wirken, gerade wenn Österreich zusammen mit dem kolonisierten Indien behandelt wird, und es stellt sich die Frage, ob Gammerl in einer bewussten postkolonialen Dezentrierungsabsicht nicht ein wenig über das Ziel hinaus geschossen ist. Allerdings wird diese Wahl verständlicher, wenn wir an die Ausrichtung der Arbeit auf die genannten Typologien staatlicher Handlungsmuster denken. Hier sind die Forschungsergebnisse Gammerls beeindruckend, und es ist ihm besonders die Wahl der Habsburgermonarchie als Vergleichsobjekt anzurechnen, die eher selten zu komparatistischen Zwecken herangezogen wird.

Dennoch gibt es einige Kritikpunkte: Gammerl weist selbst auf die aus dem habsburgischen Dualismus resultierende staatsrechtliche Komplexität hin und ist sich der autonomen Verwaltung der cisleithanischen Kronländer bewusst (84 Anm. 33). Er nimmt allerdings ausschließlich Quellen der Zentraladministration in den Blick und kann daher, wie er selbst zugibt, aufgrund der Nichtrepräsentativität des Quellenmaterials kein regelmäßiges Muster einer ethnischen Diskriminierung im Fall von Einbürgerungen ableiten, wenn auch regionale Ungleichbehandlungen sichtlich vorkamen (86). Ähnlich bedauerlich ist die fehlende Sichtung des lokalen bosnischen Materials (163 Anm. 37). Neben der notwendigen Berücksichtigung von Akten auf der Landesebene erschweren auch fehlende Sprachkenntnisse der gängigen Landessprachen die systematische Erforschung der Habsburgermonarchie. Dies erklärt diesbezügliche Lücken in der Bibliographie des vorliegenden Bandes, die auch hinsichtlich der deutsch- und englischsprachigen Fachliteratur ergänzt werden könnte. Die Konzentration auf die Zentraladministration ist aber nicht nur ein "habsburgisches" Problem, sondern gilt ebenso für den Fall Kanadas, wo die Provinzverwaltung ebenfalls über die Vergabe gewisser Rechte entschied.

Ferner wäre eine stärkere historische Kontextualisierung der staatlichen Verwaltung vor dem Hintergrund der Nationalismen gerade in den kanadischen und habsburgischen Fällen wünschenswert. Die Hervorhebung der als erfolgreich bewerteten anerkennenden Differenzierung im Mährischen Ausgleich von 1905, in dem erstmals ethnische Heterogenität durch nach Nationalitäten (deutsch und tschechisch) getrennte Wahlkreise berücksichtigt wurde, müssten die massiven Krisen der etatistischen Politik, insbesondere das Fiasko der Badenischen Verordnungen zur zweisprachigen Amtsführung in Böhmen 1897, vorangestellt werden. Damit wäre auch die These, die etatistische Politik habe gerade Bestrebungen nach nationaler Autonomie gefördert (350), neu zu diskutieren.

Weitere Fragen betreffen die starke Kontrastierung des britischen Untertanenbegriffs (subject), der erst 1983 vom Begriff des citizen abgelöst wurde, und des Ende des 18. Jahrhunderts eingeführten josephinischen Staatsbürgerbegriffs, dem gleiche Rechte eingeschrieben waren. Wie sind hier die rights of Englishmen, die seit dem 17. Jahrhundert in eine Reihe von Bills gefasst wurden, einzuordnen? Auch eine enge Verknüpfung der Wehrpflicht, die in Österreich nicht als Teil des Staatsgrundgesetzes von 1867 (248), sondern ein Jahr später erlassen wurde, mit Grundrechten, insbesondere dem Wahlrecht, ist für den österreichischen Fall als problematisch zu werten. Schließlich wäre den Beziehungen ethnischer Unterschiede zu geschlechtlichen Differenzen sorgfältiger nachzugehen. Hier gibt es bereits eine reichhaltige Literatur über die britischen und kolonialen Frauenbewegungen insbesondere in Indien. Auch das vor 1918 bestehende Frauenwahlrecht auf kommunaler und regionaler Ebene im Vereinigten Königreich und in mehreren Kronländern Österreichs sowie die offiziell der etatistischen Staatspolitik folgende Haltung der deutschsprachigen Frauenbewegung, die mitnichten pauschal als "deutschnational" bezeichnet werden kann, sollte hier stärker ins Visier genommen werden.

Alle diese Einwände bedeuten selbstverständlich ein Forschungs- und auch Darstellungsproblem. Komparatistische Studien sind ein mühsames Unterfangen und müssen notwendigerweise manche Aspekte reduzieren, damit aus ihnen kein "Lebenswerk" wird. Gammerl hat mit seinen Forschungen äußerst wichtige Schlussfolgerungen für die Einschätzung des staatlichen Umgangs mit ethnischer Heterogenität aufgerissen, die nun die Grundlage für vertiefende Studien bilden können.

Vor allem rückt er eine ganze Reihe von Annahmen zurecht. Für den Fall der Habsburgermonarchie weist er auf die Stellung Bosnien-Herzegowinas hin, die in der Forschung bisher unberücksichtigt geblieben ist und das Bild eines vorbildhaften "inklusiven und anerkennenden Staatsangehörigkeits- und Staatsbürgerrechts" (26) revidiert. Und im britischen Fall kommt er zum Schluss, dass ethnische Exklusionstendenzen viel früher als angenommen griffen. Um 1900 setzte sich hier eine Politik der ethnischen Differenzierung durch. Somit ist die Zäsur des Ersten Weltkrieges zu relativieren, er fungierte nur als Katalysator bestehender Entwicklungen. Allgemein plädiert Gammerl dafür, statt der oben angeführten Dichotomisierung bei der Bewertung von Imperien die etatistische Egalisierung von der nationalstaatlichen Integration zu unterscheiden und nach der Art der ethnischen Differenzierung - anerkennend oder diskriminierend - zu fragen. In Modifikation von Foucaults Konzept der "Biomacht" seien fördernde und verbietend reglementierende Machtmechanismen zu berücksichtigen. Damit argumentiert Gammerl auch gegen die These, "die Desintegration der Imperien sei im Zeitalter des Nationalismus unausweichlich gewesen" (71). Somit hat Gammerl einen äußerst wertvollen Beitrag zum Weiterdenken im Feld der citizenship- aber auch Empirestudien vorgelegt.

Birgitta Bader-Zaar