Rezension über:

Rebekka von Mallinckrodt (Hg.): Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek; Nr. 89), Wiesbaden: Harrassowitz 2008, VIII + 375 S., 181 Abb., ISBN 978-3-447-05794-3, EUR 39,80
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Rezension von:
Georg Tschannett
Institut für Geschichte, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Maren Lorenz
Empfohlene Zitierweise:
Georg Tschannett: Rezension von: Rebekka von Mallinckrodt (Hg.): Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden: Harrassowitz 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8 [15.07.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/07/14749.html


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Rebekka von Mallinckrodt (Hg.): Bewegtes Leben

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"Bedarf es nach dem Boom der körperhistorischen Publikationen und Tagungen seit den 1990er Jahren noch eines weiteren Sammelbandes über 'Körpertechniken'?" (2), so die Frage von Rebekka von Mallinckrodt, Herausgeberin des hier rezensierten Bandes. Diese Frage soll auch als Richtschnur für die Besprechung des 2008 erschienenen Ausstellungskataloges über "Körpertechniken in der Frühen Neuzeit" dienen, dessen Veröffentlichung eine Tagung im April 2007 vorangegangen war. Die Ausstellung war für Besucherinnen und Besucher vom 29. Juni bis 16. November 2008 in den Räumlichkeiten der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel zugänglich. Der die Ausstellung begleitende großformatige Katalog umfasst 375 Seiten und ist reich bebildert. Der erste Teil versammelt neben einem kurzen Vorwort von Helwig Schmidt-Glintzer und einer Einführung der Herausgeberin elf Beiträge. Den eigentlichen Ausstellungskatalog bildet der zweite Teil.

Die überwiegend in den 1990er Jahren publizierten körpergeschichtlichen Forschungen zur Frühen Neuzeit rückten den menschlichen Körper als sozialen Bedeutungsträger und als soziales Produkt in den Mittelpunkt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen betonten die Historizität und Wandelbarkeit von Körperkonzepten. Einige Forscherinnen und Forscher fassten in Anlehnung an Michel Foucault den Körper als eine Art materielle Hülle und untersuchten, auf welche Weise sich Diskurse und Praktiken in den Körper einschrieben. Körpertechniken sowie Fragen nach dem Körper als Kommunikationsmedium wurden in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung - im Gegensatz zur französischen und englischen - hingegen kaum berücksichtigt.

Wie Rebekka von Mallinckrodt einführend anmerkt, befassten sich einige Studien mit der Bewegungskunst des Tanzes und des Kampfes, jedoch zumeist unter den Prämissen einer auf die Institution "Hof" fokussierenden Geschichtsschreibung, bei der die einzelnen Körpertechniken im Hintergrund blieben. Die internationale Sportgeschichte klammerte die mehr auf Ästhetik als auf Leistung und Wettkampf konzentrierten Körpertechniken der Frühen Neuzeit größtenteils aus. Die deutsche Bewegungsforschung der 1960er und 1970er Jahre zeigte zwar ein Interesse für die von der Sportgeschichte vernachlässigten Bewegungstechniken, deren mentalitätsgeschichtlicher Zugang präferierte allerdings universelle Gesetzmäßigkeiten vor einer differenzierten, die Kategorien Geschlecht, Ethnie und Stand beziehungsweise Klasse berücksichtigenden Analyse.

Hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes betritt der Ausstellungskatalog demnach nicht nur "Neuland". Der dargestellte Untersuchungszeitraum, der vom 16. bis ins frühe 19. Jahrhundert reicht, sowie der Fokus auf jene Körpertechniken, "die aufgrund ihrer Komplexität eine eigene Traktatliteratur zur Erlernung dieser Praktiken hervorgebracht haben" (10), stellen innovative Aspekte dar. Die Beiträgerinnen und Beiträger referieren nicht nur die Inhalte der Traktatliteratur, sie gehen auch sehr anschaulich und in Anlehnung an die 1934 angestellten Überlegungen von Marcel Mauss auf die zeit- und kulturabhängigen Intentionen und Funktionen der Anleitungsschriften ein. [1]

Den ersten Teil des Bandes eröffnet ein Beitrag von Janina Wellmann zur Geschichte der Instruktionsgraphiken vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Anhand von Fechtbüchern und der Untersuchung der sich verändernden militärischen Ausbildung erläutert sie den sequenziell-performativen Charakter der Instruktionsgraphiken. Die von ihr beschriebene Sequenzierung, Visualisierung, Versprachlichung, Verwissenschaftlichung und damit einhergehende Normierung von Körperhaltungen und Bewegungsabfolgen zieht sich wie ein roter Faden durch die Beiträge.

Mit ihren umfangreichen, üppig bebilderten und meist auch detailversessenen Darstellungen verfolgten die Autoren der Traktate oft die Aufwertung bestimmter Körpertechniken. Am Beispiel der Akrobatik belegt Sandra Schmidt, auf welche Weise eine Bewegungsart als Kunst und Wissenschaft etabliert wurde. Ihr Beitrag verdeutlicht gleichzeitig, inwieweit kubistischen (kopfüber stürzenden) Sprüngen soziale Bedeutung beigemessen wurde. Auch die Beiträge von Anselm Schubert und Rebekka von Mallinckrodt beschreiben das Auf- beziehungsweise Umwerten spezifischer Körpertechniken: Ersterer befasst sich mit dem Göttinger Universitätsfechtmeister Anton Friedrich Kahn (1713-1797) und seinen Anstrengungen, den Nutzen des Fechtens durch eine moralisch aufgeklärte Begründung zu rechtfertigen. Der Beitrag von Rebekka von Mallinckrodt beschäftigt sich mit dem Versuch, die bis dahin "stumme Praxis" (245) des Schwimmens dem Bürger des ausgehenden 18. Jahrhunderts zugänglich zu machen, indem sie mit neuen Bedeutungen versehen wurde.

Dass mit der Aufwertung bestimmter Körpertechniken die Etablierung des Körpers als ein Kommunikationsmedium einherging, mit welchem die Zugehörigkeit zu einem Stand symbolisiert wurde, wird an vielen Stellen des Bandes deutlich: Am Beispiel der Reitkunst zeigt Pia F. Cuneo, dass "richtiges" Reiten dazu diente, eine bestimmte soziale Rolle zu repräsentieren, die "wesentlich auf Idee und Praxis des (Be)Herrschens" basierte (167). Kirsten O. Frieling verdeutlicht, auf welche Weise der Entwurf eines bürgerlichen Körpercodes in Anstandsbüchern an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert dem aufstrebenden Bürgertum der sozialen Distinktion sowohl gegenüber dem Adel als auch gegenüber den Unterschichten diente. In vergleichbarer Weise zeigt Marie-Thérèse Mourey anhand von Tanzlehrbüchern, wie der Tanz im bürgerlich-städtischen Milieu Deutschlands als optisch wirksame Kommunikationsform etabliert wurde.

Mit längeren Untersuchungszeiträumen befassen sich der Beitrag von Dietmar Till über die rhetorischen Disziplinen der actio (Körpersprache) beziehungsweise pronuntiatio (stimmlicher Vortrag) und jener von Michael Sikora über den militärischen Drill als ein Produkt der europäischen Frühen Neuzeit. Den "vergnüglichen" Körpertechniken widmen sich Heiner Gillmeister in seinem Beitrag über das frühneuzeitliche Tennisspiel und Jacques Gleyse in seinem Beitrag zur Rehabilitierung der hygienischen Gymnastik im 16. Jahrhundert.

Der eigentliche Katalogteil wurde mit einer Ausnahme von den bereits genannten Beiträgerinnen und Beiträgern verfasst. Inhaltlich rekurriert er auf den ersten Teil des Bandes und präsentiert in insgesamt 66 Kapiteln unterschiedlichste Körpertechniken wie das Tanzen, die Kubistik, die Leibesübungen, das militärische Exerzieren, das Reiten und das Fechten. Gleichzeitig geht der Katalogteil auf das frühneuzeitliche Tennisspiel, das Schwimmen, die Rhetorik und die höflichen Umgangsformen ein. Im Mittelpunkt der einzelnen Kapitel stehen zahlreiche, vorwiegend aus der Sammlung der Herzog August Bibliothek stammende Druckschriften. Von diesen ausgehend werden sowohl biographische Informationen zu den Verfassern als auch die Intentionen und Funktionen der Schriften erläutert.

Dem Ausstellungskatalog gelingt es, eine Vielzahl an Bewegungstechniken und ihre materielle bzw. mediale Manifestation in Form der Traktate und Anleitungsschriften sowohl einem historisch interessierten Publikum als auch einer akademischen LeserInnenschaft zu präsentieren. Indem die Beiträgerinnen und Beiträger über den konkreten Entstehungszusammenhang und das potentielle Aussageniveau der Schriften reflektieren, verorten sie die Texte in ihren spezifischen historischen Kontexten. Die Konzentration auf die ständisch differenzierte Gesellschaft der Frühen Neuzeit führte allerdings dazu, dass die Kategorie Geschlecht - bis auf wenige Stellen im Band - vernachlässigt wurde.


Anmerkung:

[1] Marcel Mauss: Die Techniken des Körpers, in: Ders.: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, München 1975, 199-220. (Vorgetragen vor der Société de Psychologie am 17.5.1934; zuerst erschienen in: Journal de Psychologie Normale et Pathologique 32/3-4, 1935, 271-293).

Georg Tschannett