Rezension über:

Heike Amos: Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Sondernummer), München: Oldenbourg 2009, 298 S., ISBN 978-3-486-59139-2, EUR 44,80
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Rezension von:
Andreas Kossert
Deutsches Historisches Institut, Warschau
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Kossert: Rezension von: Heike Amos: Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990, München: Oldenbourg 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/01/16358.html


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Heike Amos: Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990

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Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Europa ließen mehr als vier Millionen Heimatlose im Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone stranden. Das Land stand Kopf. Von dieser schwierigen Ankunft erzählten Anna Seghers, Heiner Müller und Christa Wolf, später Günter de Bruyn, Christoph Hein und Reinhard Jirgl. Katholische Sudetendeutsche aus böhmischen Barocklandschaften fanden sich plötzlich auf der Insel Rügen wieder, evangelische Ostpreußen von den Seen Masurens suchten im Thüringer Wald Asyl. Bald nach dem Zusammenbruch der DDR nahm sich die historische Forschung des weißen Flecks an, den die Geschichte der Vertriebenen in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR darstellte. Erstaunliche Ergebnisse zur Geschichte der Vertriebenen und ihrer "Integration" in die sozialistische Gesellschaft kamen zutage: zur SED-Politik gegenüber den Vertriebenen, zur Oder-Neiße-Linie, zu spezifischen Submilieus sowie lokale Studien. Dabei richteten sie ihren Fokus vornehmlich auf die ersten Nachkriegsjahre bis in die 1950er Jahre. Danach - so war auch die offizielle Doktrin - verschwand das Vertriebenenproblem. Insbesondere Michael Schwartz setzte mit seinen Studien Maßstäbe. [1]

Nun liegt eine neue bemerkenswerte Studie aus der Feder von Heike Amos vor, Historikerin am Institut für Zeitgeschichte. Sie schlägt erstmals einen chronologischen Bogen von der Gründung bis zum Untergang der DDR. Das ist eine besondere Herausforderung und stellt zugleich ein wirkliches Novum dar. Bereits Anfang der 1950er Jahre erklärte die DDR-Regierung die Integration der "Umsiedler" - wie die Vertriebenen im DDR-Sprachgebrauch hießen - für abgeschlossen; die Vertriebenen verschwanden zeitgleich aus allen offiziellen Statistiken, was eine Rekonstruktion für die Folgezeit erschwert. "Umsiedler" war ein Begriff, der von der SED und den Sowjets zur Verharmlosung des Vertreibungsvorgangs eingeführt wurde, womit man den Vertriebenen jegliche Rückkehrhoffnungen nehmen wollte. Amos meint zu Recht, der Terminus sei zudem "extrem verharmlosend, beschönigend und entsprach nicht den realen Tatsachen und Abläufen." Den betroffenen "Umsiedlern" mutete er eine "erhebliche sprachpolitische Vergewaltigung ihrer Erinnerungen zu." (18) Doch blieb das Thema virulent, was schon bei den Dimensionen des Vertriebenenproblems nicht überrascht: Sie machten insgesamt ein Viertel, in Mecklenburg-Vorpommern sogar knapp die Hälfte der Bevölkerung aus. Von Anfang an verfolgte man ein "striktes Assimilationskonzept", zugleich wurde die Vertriebenenproblematik "aus der DDR-Öffentlichkeit verdrängt, verschwiegen, tabuisiert." (9)

Heike Amos untersucht die Politik- und Gesellschaftsbereiche, in denen sich die SED-Führung trotz ideologischer Negierung gezwungen sah, sich dem Thema zu stellen. Ferner zeigt sie, in welchen Bereichen die SED die Vertriebenenproblematik schwerpunktmäßig wahrnahm und sich zum Handeln veranlasst sah. Die Kontakte der Vertriebenen in der DDR mit Landsleuten im Westen, die Suche nach sozialen Bindungen aus der alten Heimat und die Teilnahme an westdeutschen Heimattreffen wurden von der DDR als "sicherheitspolitisches Problem" (12) wahrgenommen und vom DDR-Repressionsapparat - das MfS, Polizei und Justiz - kontrolliert und weitgehend behindert (12). Des Weiteren untersucht die Autorin die Frage der verbliebenen Deutschen in ihren alten Heimatgebieten und die Politik der DDR in dieser Frage. Ein letzter wichtiger Punkt bildet die Wahrnehmung der westdeutschen Vertriebenenverbände und die SED-Revanchismus-Kampagnen der 1960 und 1970er Jahre, die die internationale Anerkennung der DDR beschleunigen sollten.

Nur einige Punkte seien hier vertiefend skizziert. Es gelang der SED nicht, ihre Revanchismuskampagnen mit den kommunistischen Parteien in Polen, ČSSR oder Ungarn in Einklang zu bringen. Dort war man gewohnt, weiterhin national zu denken, was der SED-Spitze versagt blieb. Internationale Anerkennung versprach man sich nur, wenn sich die DDR als "sozialistischer deutscher Friedensstaat" gegen die Bundesrepublik abzuheben vermochte. Bei den östlichen Nachbarn misstraute man der SED, weil sie zu dogmatisch und ideologisch war sowie stets zu eng mit der UdSSR kooperierte. Amos stellt dazu fest: "Die SED bezichtigte die Politiker aus Warschau und Prag wiederholt, die 'Revanchismusgefahr aus Westdeutschland' zu unterschätzen, während die Polen, die Tschechen und Slowaken den Ostdeutschen ein überzogenes 'westdeutsches Revanchismus-Trauma' unterstellten." (188)

Von 1990 bis 2000 stellten rund 1,38 Millionen ehemalige DDR-Bürger einen Antrag nach dem Vertriebenenzuwendungsgesetz: Das allein zeigt, dass die DDR-Politik der totalen Tabuisierung gescheitert war. Heike Amos betont zu Recht, dass die "verfrühte Einstellung spezifischer Integrationsförderung" sowie die "Tabuisierung des Vertriebenenstatus" auch damit zusammenhing, dass SED und einheimische Bevölkerung durchaus alte Vorurteile hegten und nicht bereit waren, finanzielle Mittel als "Anerkennung für einen besonders gravierenden Verlust durch Flucht und Vertreibung aufzubringen." (256) Daher übersah die SED auch stets, dass sie ihr eigenes Vertriebenenproblem durch Tabuisierung und Repression schuf, obwohl sie die Fehler nicht bei sich sah, sondern allein dem bundesrepublikanischen "Revanchismus" zuschrieb. Für Selbstkritik war in der SED-Riege kein Platz, schon gar nicht Verständnis, verstärkt durch ein ideologisch verordnetes Schweigen. Obwohl jede Form von Zusammenkünften verboten war, trafen sich Vertriebene überall, meist durch Mund-zu-Mund-Propaganda verbreitet. Vertriebenentreffen, insbesondere in Westberlin, wurden von Informanten dokumentiert. Zum "Tag der Heimat" am 4. September 1960 in der Berliner "Waldbühne" hatte das MfS 124 "Geheime Informatoren" (GI) rekrutiert.

Die Revanchismuskampagnen sowie die Schaffung der Termini "Revanchisten" und "Ewiggestrige" gingen von der Hauptabteilung XX der DDR-Staatssicherheit und dem SED-Chefideologen Albert Norden aus. Teile der westdeutschen Öffentlichkeit übernahmen fortan diese Terminologie. In den 1960er und beginnenden 1970er Jahren erlebten die SED-Revanchismuskampagnen ihre Blüte, wobei sie die DDR außenpolitisch stabilisieren und auch in Abgrenzung zur Bundesrepublik "herrschaftslegitimierend" wirken sollten. In ihren Kampagnen richtete sich die SED unterschiedslos gegen Union und SPD, schoss sich aber insbesondere auf den BdV-Präsidenten Wenzel Jaksch ein, der als alter sudetendeutscher Sozialdemokrat vor den Nationalsozialisten 1938 nach England floh und 1949 aus dem Exil in die Bundesrepublik kam. Jaksch wurde "zu einem Zielobjekt einer diffamierenden persönlichen Revanchismus-Kampagne, die zwischen 1959 und 1969 lief", wobei man ihn, den erklärten Gegner des Nationalsozialismus und Emigranten zum "Heim-ins-Reich-Krieger" oder "Volk-ohne-Raum-Ideologen" machte, ja sogar "Jaksch auf Goebbels Spuren" titulierte (260). Die Revanchismuskampagnen gingen erst zurück, als die DDR mit der sozialliberalen Ostpolitik ihre internationale Anerkennung gefestigt sah und erlebten mit der Ära Kohl noch einmal eine Neuauflage, die bis zum Ende der DDR anhalten sollte.

Klar wird, dass während der gesamten Existenz der DDR die Vertriebenenfrage virulent blieb; die radikale Assimilationspolitik der SED war gescheitert. Integration konnte man nicht verordnen. Heike Amos schildert souverän die Geschichte einer Tragödie, die - nur weil sie ideologisch nicht passte - nicht aufgearbeitet werden durfte, eine Tragödie auch von Tabuisierung, verordnetem Schweigen und Verdrängung, von Missverständnissen und Vorurteilen. Dieses Buch ist wichtig, denn es nimmt die gesamte Geschichte der DDR in den Blickpunkt. Ein bahnbrechendes Buch, Heike Amos muss man lesen: Eine aufklärerische Studie, ein wissenschaftliches Plädoyer gegen totalitäre Engstirnigkeit.


Anmerkung:

[1] Vgl. insbesondere seine monumentale Arbeit: Michael Schwartz: Vertriebene und 'Umsiedlerpolitik'. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945 bis 1961 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 61), München 2004.

Andreas Kossert