Rezension über:

Sabine Brinitzer: Organische Architekturkonzepte zwischen 1900 und 1960 in Deutschland. Untersuchungen zur Definition des Begriffs "organische Architektur", Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 624 S., ISBN 978-3-631-53697-1, EUR 82,20
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Rezension von:
David Kuchenbuch
Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität, Oldenburg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
David Kuchenbuch: Rezension von: Sabine Brinitzer: Organische Architekturkonzepte zwischen 1900 und 1960 in Deutschland. Untersuchungen zur Definition des Begriffs "organische Architektur", Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12 [15.12.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/12/14169.html


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Sabine Brinitzer: Organische Architekturkonzepte zwischen 1900 und 1960 in Deutschland

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Einer der faszinierenden Aspekte der architektonischen Moderne ist ihre Heterogenität. Mit zunehmendem Abstand zu den zeitgenössischen Debatten um das Neue Bauen - um die Standardisierung, die Auflösung des Subjekttyps "Künstler", um das Streben nach "Objektivität" - wird deutlich, wie vielfältig die Erneuerungstendenzen in der Architektur seit dem 19 Jahrhundert waren. Sabine Brinitzers Studie zu "organischen Architekturkonzepten" fußt in just dieser Beobachtung. Sie befasst sich mit einer Erneuerungsbewegung neben Funktionalismus, Konstruktivismus und Rationalismus: Sie beleuchtet "organische" Aspekte des Werks von Henry van de Velde, Hans Poelzig, Hugo Häring, Erich Mendelsohn, Hans Scharoun und Alvar Aalto zwischen 1900 und 1960, auch um zu zeigen, dass die "organische Architektur" Anregungen für die Gegenwart bereithält.

Brinitzers Buch ist klar aufgebaut. Nach einer knappen Einführung widmet es jedem der ausgewählten Architekten ein eigenes Kapitel. Einer Darstellung des beruflichen Werdegangs folgt ein Überblick über die "Geisteshaltung" (27) des Architekten bezüglich wichtiger Probleme des Bauens und der Moderne - dazu gehören seine Ansichten zur Tradition, zum Material, zum Ornamentalen, zu Technik und Standardisierung. Daran schließt die Analyse exemplarischer Entwürfe an, darunter auch weniger bekannter Bauten und Handzeichnungen - alle besprochenen Werke finden sich im umfangreichen Abbildungsteil. Brinitzer versteht sich glänzend auf die Beschreibung und Deutung von Bauten und Zeichnungen, assoziationsreich und sachkundig interpretiert sie die Herangehensweise des jeweiligen Architekten an tatsächliche und imaginäre Bauaufgaben. Die Verknüpfung von Theoriegebäude und Praxis vertieft das Verständnis ihres Werks, auch wenn Brinitzer überwiegend die Forschung kondensiert und keine eigenen Archivarbeiten unternimmt.

"Organisch" zu denken, zu zeichnen und zu bauen kann bei Brinitzer vieles heißen. Zu den Merkmalen der "organischen Architektur zählt sie in ihrer Einleitung u.a. die Begeisterung für biomorphe Formen, die Bejahung von Individualismus und genius loci, die Aufmerksamkeit für die Beziehung von (Bau-)Teil und Ganzem, den Versuch, natürliche Prozesse zu imitieren - "Fließvorgänge, Entstehungs- und Wachstumsprozesse, Übergänge, Gesetzmäßigkeiten" (15). "Organisch" sind aber auch Bedürfnisorientierung, das Interesse an Materialtreue und tektonischen Strukturen sowie die Rücksicht auf ökologische Aspekte.

Prinzipiell ist gegen dieses vergleichweise vage tertium comparationis nichts einzuwenden - schließlich will Brinitzer laut Untertitel den Begriff "organische Architektur" definieren. Gelegentlich fragt sich der Leser aber doch, warum sie sich für gerade diese Architekten und für den Zeitraum 1900 bis 1960 interessiert. Es ist symptomatisch, dass Brinitzer das Attribut "organisch" ohne erkennbares System mal in Anführungsstriche setzt und mal nicht: Meint der heuristische Begriff "organisch", dass eine Architekturpraxis mit einem ex post aufgestellten Merkmalkatalog übereinstimmt, oder geht es hier historisierend - genauer: epistemologisch - um einen vergangenen Diskurs? Wenn letzteres im Zentrum steht, dann überrascht, dass nicht alle von Brinitzer ausgewählten Protagonisten den Begriff "organisch" im selben Maße benutzten. Während er in Härings quasi-religiöser Architekturteleologie omnipräsent war, benutzte ihn Aalto sogar "außerordentlich wenig" (453). Geht es aber um eine überhistorische Kategorie, dann irritiert, dass für Brinitzer vieles "organisch" ist, was nur einzelne der von ihr genannten Charakteristika aufweist. Die Einbeziehung in die Riege der "organischen Architekten" mutet manchmal wie die Quadratur des Kreises an, bzw. andersherum. So heißt es zu Härings Wohnhaus Werner Schmitz in Biberach (1950), hier würden "keine abgerundeten 'organischen' Formen benutzt, sondern reine geometrische Figuren, mit denen Häring durch ihre Proportionierung und Anordnung dennoch eine lebendige und auf seinen organischen Prinzipien beruhende Baustruktur herbeiführte." (244) Waren dann nicht die meisten Architekten im 20. Jahrhunderts "Organiker"? Eine "nicht-organische" Architektur - also ein ahistorischer, stark standardisierter, kubisch-puristischer Funktionalismus ohne "fließende" Raumübergänge, ohne Anpassung ans Gelände, ohne den Anspruch tektonischer "Ehrlichkeit", der nicht den Versuch unternimmt, individuelle Bedürfnisse zu befriedigen usw. - das dürfe eher ein Idealtyp sein.

Es scheint, als immunisiere sich Brinitzer gegen diese Schwierigkeiten, indem sie just das "Individuelle" bzw. "Vielgestaltige" als Kennzeichen des "Organischen" identifiziert. In einer architekturhistorischen Arbeit wäre aber gerade zu fragen, warum sich innerhalb eines bestimmten Zeitraums sehr unterschiedliche architektonische Ansätze (offen oder implizit) auf das "Organische" bezogen. Was machte diese Metapher zwischen 1900 und 1960 so attraktiv? Bei der Lektüre der Zitate bei Brinitzer drängt sich die Vermutung auf, dass die Orientierung der eigenen Praxis an der Natur versprach, Halt zu geben in der sich nach 1890 rasant verändernden Welt. Gerade in der (in der Studie ausgeblendeten) Stadtplanung lässt sich das beobachten: Soziologische Vorstellungen vom "organischen" Charakter "gewachsener" Gemeinschaften prägten die Auffassung vom Auftrag des Architekten. Dieser sollte helfen, im Modernisierungsprozess bedrohte, vermeintlich natürliche Formen der Vergemeinschaftung planerisch zu stabilisieren - insbesondere bei Scharoun klingt das immer wieder an (vgl. 334).

Brinitzer widmet sich solchen, über die Architektur selbst hinausweisenden, Zusammenhängen leider nicht. Dabei gibt es hier interessante neue Fragestellungen: Gerade die Wissenschaftsgeschichte befasst sich vermehrt mit der Übertragung von Metaphern - wie eben dem "Organischen" - zwischen Wissensbereichen. Ähnliche Ansätze finden sich auch in der Architekturgeschichte. Gerd de Bruyn etwa hat die Beziehung zwischen Philosophie und Architektur bei den "Organikern" Scharoun und Häring untersucht [1], ein u.a. von Annette Geiger herausgegebener Sammelband hat das Diskursfeld zwischen Lebenswissenschaften und Architektur ausgeleuchtet [2], und Elke Sohn hat in einer - erst nach Brinitzers Studie erschienenen - Untersuchung die Diffusion biologischer Figuren in den Stadtplanungsdiskurs thematisiert. [3]

Angemerkt sei noch, dass Brinitzers Buch ein gründliches Lektorat gut getan hätte. Viele kleine Rechtschreibfehler hätten korrigiert und das Durcheinander verschiedener Anführungsstriche, von Binde- und Gedankenstrichen geordnet werden können. Trotz all dieser Beobachtungen: Brinitzer wirft einen frischen Blick auf vermeintlich Altbekanntes, sie regt an, sich Gedanken zu machen darüber, was wir meinen, wenn wir von der "modernen Architektur" sprechen.


Anmerkungen:

[1] Gerd de Bruyn: Fisch und Frosch oder die Selbstkritik der Moderne, Basel / Boston / Berlin 2001.

[2] Annette Geiger / Stefanie Hennecke / Christin Kempf (Hgg.): Spielarten des Organischen in Architektur, Design und Kunst, Berlin 2005.

[3] Elke Sohn: Zum Begriff der Natur in Stadtkonzepten anhand der Beiträge von Hans Bernhard Reichow, Walter Schwagenscheidt und Hans Scharoun zum Wiederaufbau nach 1945, Münster u.a. 2008.

David Kuchenbuch