Rezension über:

Alexandra Gerstner: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, 590 S., ISBN 978-3-534-21444-0, EUR 79,90
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Rezension von:
Gunter Heinickel
Zentrum Technik und Gesellschaft, Technische Universität, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Gunter Heinickel: Rezension von: Alexandra Gerstner: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/14293.html


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Alexandra Gerstner: Neuer Adel

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Hatte es bis vor zwanzig Jahren kaum Einzelstudien zur deutschen Adels- und Elitengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gegeben, so hat das Wissen über einzelne deutsche Adelslandschaften und -formationen nun stark zugenommen. Zudem zeigte die kulturalistische Ergänzung der sozialgeschichtlichen Ansätze die Beharrungskraft des Adels in der nachständischen Gesellschaft, die sich nicht allein seinem Erfahrungswissen und seinen habituell tradierten Praktiken zum politischen und symbolischen "Obenbleiben" verdankte. Vielmehr beruhte sie wesentlich auf der ideellen Ausstrahlung, die das adlige Lebens- und Kulturmodell auf Nichtadlige ausüben konnte.

Dieser Faszination adlig-aristokratischer Elitenmodelle auf Intellektuelle widmet sich Alexandra Gerstner. Ihre Untersuchung neuadliger Elitenkonzepte zwischen 1900 und dem Dritten Reich ist durch die Beobachtung motiviert, dass in Deutschland "Neue Eliten" selbst noch im frühen 20. Jahrhundert fast ausschließlich als "Neuer Adel" denk- und beschreibbar geblieben waren (20): Dies musste unter den Bedingungen der zeitgenössischen Demokratisierungsprozesse enorme Verwerfungen im politischen Denken hervorrufen; zugleich ebneten die damit einhergehenden Umdeutungen einer überkommenen "Adligkeit" bedeutenden Teilen adliger Millieus den Weg "Vom König zum Führer", d.h. von traditionalen Herrschaftsauffassungen zu totalitären Machtmodellen. [1]

Für ihre Analyse wählt Gerstner fünf Persönlichkeiten der Geburtsjahrgänge 1867 bis 1894, denen neben einer akademischen Ausbildung allein gemeinsam war, dass sie publizistisch und politisch zwischen 1900 und 1933 im Deutschen Reich mit programmatischen Überlegungen zu Adelskonzepten und Plänen zu einer alternativen Elitenbildung hervorgetreten waren, und sich als Schlüsselfiguren bestimmter intellektueller Milieus für dieses Sample qualifizierten. Bei diesen Personen handelt es sich um Walther Rathenau (1867-1922), den völkischen Antisemiten und Mitarbeiter im preußischen Heroldsamt Bernhard Koerner (1875-1952), den sozialistischen Publizisten Kurt Hiller (1885-1972), den "konservativen Revolutionär" und Mitarbeiter Franz v. Papens Edgar Julius Jung (1894-1934), sowie als einzigen Aristokraten in dieser Gruppe, den Gründer der Pan-Europa-Union Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi (1894-1972).

In ihrem Einführungsteil behandelt Gerstner zunächst den historisch-politischen Entstehungskontext dieser Neuadelskonzepte: Ihre Ursachen vermutet sie in einer von Adel wie Bildungsbürgertum gemeinsam erfahrenen Kulturkrise, die wesentlich durch die Industrialisierung ausgelöst worden sei. In Anlehnung an die französische Intellektuellenforschung sieht Gerstner die neuen Intellektuellen als "moralische Führer" auftreten, die sich selbst einen Erziehungs- und Führungsauftrag in und für die Gesellschaft erteilt hätten (37). Auch die im Buch vorgestellten fünf Vertreter dieses neuen Sozialtypus hätten sich als "Gegenelite" eines "geheimen" oder "anderen Deutschland" verstanden. Unter dem Impetus der zahlreichen zeitgenössischen Reformbestrebungen verschmolzen diese Idee eines "Neuen Adels" teilweise sogar mit dem Konzept des damals unter nietzscheanischem Vorzeichen diskutierten "Neuen Menschen" (38). Dieser Kontext der kaiserzeitlichen Neuadelsideen belegt, in welchem Ausmaß sich außeradlige Neudeutungen des "Adligen" schon völlig von der Sozialformation Adel emanzipiert hatten (41). Aufgrund dieser utopischen Struktur, diesem "Könnensbewusstsein" sozialtechnischer Möglichkeiten bewertet Gerstner den Diskurs vom "Neuen Adel" als Teil einer "reflexiven" (d.h. reflektierenden) Moderne, die auch die Vertreter einer "Neuen Rechten" keineswegs an konservativ-traditionale Denk- und Wertmuster zurückverwies, sondern ganz wie die "Linken" auf die Suche nach einer "alternativen Moderne" schickte. An diesem Punkt bliebe gegenüber Gerstners Erklärungsmodell lediglich kritisch anzufügen, dass die Ursachen hierfür wohl zutreffender als Folge politischer Erfahrungen zu deuten wären, wie der epochalen Niederlage des deutschen Liberalismus, die der Renaissance des Neudadelsdiskurses im Zweiten Kaiserreich vorausging. Hierdurch erklärte sich auch die dem Neuadelsdiskurs immanente Strategie eines "integrativen Protests" gegen die herrschenden Autoritäten, die unter Bezug auf vorgeblich "traditionale" Formen, Begriffe und Institutionen eine indirekte Gesellschaftskritik ermöglichte.

Der zweite Teil der Arbeit arbeitet die "intellektuellen Profile" des gewählten Samples mit dem methodischem Ansatz der sogenannten "Neuen Ideengeschichte" scharf heraus, die identifizierte "Ideen" als Ausdruck "gedachter Ordnungen" auffasst (39). Dazu wertete Gerstner neben den publizierten Programmschriften und Zeitschriftenbeiträgen die in den Nachlässen überlieferte Korrespondenz und organisatorische Verflechtung der Protagonisten aus.

Im dritten, eigentlichen Untersuchungsteil gliedert Gerstner schließlich die Elitenkonzeptionen der Persönlichkeitsprofile um thematische Schwerpunkte, die sie wiederum in ihren zeitgeschichtlichen Argumentationszusammenhängen anschaulich werden lässt. Dazu greift die Autorin auf die von ihr identifizierten Leitkategorien "Rasse" und "Tat", bzw. "Tatmensch" zurück. Sie beleuchtet den Ursprung und die historische und semantische Entwicklung dieser Motive, die, vor allem im Falle der "Rasse"-Kategorie, bis in das 18. Jahrhundert zurückreichen, seither aber erhebliche Bedeutungsverschiebungen durchlaufen hatten. Gerade diese ungeklärte Ambivalenz des Rassebegriffs bot aber eine vordergründige semantische Brücke zwischen gedachten Neuadelskonzepten wie denen des Antisemiten Koerner, dessen Ansatz den völligen Ausschluss der Juden aus Führungspositionen anstrebte, und dem Philosemiten Coudenhove-Kalergi, der seinen "Neuadel" gerade aus der Verbindung aus alter (militär- und führungsaffiner) Aristokratie und (geist- und wissenschaftsaffinem) Judentum zu einer Elite wahren europäischen, gar "globalen Menschentums" hervorgehen lassen wollte.

Im Bild des "Tatmenschen" wiederum spiegelte sich eine Vielfalt von Persönlichkeitsidealen eines sich "post-religiös"-nietzscheanisch selbst "befreienden" Menschen, der sich durch eine solchermaßen verstandene "Aufklärung" erneut einer antik-heidnisch gedachten "Herrenmoral" zuwenden sollte, um die christliche "Sklavenmoral" als vorgebliche Ursache adliger und europäischer (Kultur-)Degeneration hinter sich zu lassen. Militärisch geprägte Männlichkeitsideale einerseits, aber auch die Ideen einer Vereinigung von "Geist und Tat", sollten die Mittel zur Rettung der "Persönlichkeit" in der Moderne bieten. In diesem Topos wird der Bruch mit den historischen "Adligkeitsidealen" besonders sichtbar. Zum Abschluss des dritten Teils untersucht Gerstner diese Neuadelskonzepte in ihrer Funktion für politische Modelle. Entsprechend dem weiten Spektrum der Neuadelsideen bewegten sich diese Konzeptionen von Ideen eines "geistigen Herrenhauses" "großer Persönlichkeiten" über kompromisshafte Verbindungen mit einer parlamentarischen Selektion zur Elitenverflüssigung, funktionalen Ständestaatsideen zur verbesserten Integration von Staat und Gesellschaft, bis hin zur unverholen rassistisch-biologischen Auslese.

Im vierten Teil ihrer Arbeit behandelt Gerstner in "Fallstudien" die von ihren Protagonisten individuell gewählten "Wege zur Macht". Übereinstimmend verlief dieser Weg von ursprünglich eher losen Netzwerken und künstlerisch-literarischen Zirkeln sowie ersten vorsichtigen Vereinsgründungen vor dem Ersten Weltkrieg zu schließlich teils gezieltem, teils eher widerstrebendem Engagement in der Parteipolitik. Die Ambivalenz und Unentschlossenheit gegenüber dem Parteiwesen ließ diese Aktivisten zwischen Parteiorganisation und "Bewegung" schwanken und wirkte sich auf deren äußerst widersprüchliche Erfolgserfahrungen aus.

Alexandra Gerstner hat mit ihrer bestechenden Arbeit ein bisher nur in Fragmenten ausgeleuchtetes Kapitel der deutschen Ideologie- und Politikgeschichte systematisch aufgearbeitet, und zugleich die Ansprüche einer modernen Intellektuellen- und Ideengeschichte erfüllt. Als besonders wertvoll darf ihr Beitrag auch deshalb gelten, weil der von ihr gewählte Ansatz deutlich macht, wie scheinbar marginale, historisch vordergründig "anachronistische" Denkgehalte schon deshalb große Wirkungen entfalten können, weil sie alternative Gedanken- und Handlungskapazitäten binden oder umlenken. Zudem gelingt es ihr, die in der Forschung wie in der Tagesliteratur immer wieder beobachtete Nähe der Gesellschaftskritik von "Neuer Rechter" und klassischer "Linker" und die gemeinsame Ablehnung liberaler Gesellschaftsordnungen auf der Suche nach einer "alternativen Moderne" argumentativ nachzuzeichnen. Damit schließt ihre Arbeit eine Lücke der deutschen Ideologiegeschichte.


Anmerkung:

[1] Stephan Malinowski: Vom König zum Führer: sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003.

Gunter Heinickel