Rezension über:

Peter Borsay: A History of Leisure. The British Experience since 1500, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2006, 306 S., ISBN 978-0-333-93082-3, GBP 15,99
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Rezension von:
Michaela Fenske
Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität, Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Michaela Fenske: Rezension von: Peter Borsay: A History of Leisure. The British Experience since 1500, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2006, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/12591.html


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Peter Borsay: A History of Leisure

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Kaum ein Feld weist vergleichbar hohe wirtschaftliche Wachstumsraten auf wie die Freizeitindustrie. Auch besitzt im persönlichen Erleben vieler Menschen der westlichen Welt wenig einen so hohen Stellenwert wie ihre Hobbys, ihr Verein, ihre Urlaube oder die Siege ihrer Fußballmannschaft. Umso erstaunlicher ist es, dass Freizeit in der öffentlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung bisweilen immer noch als ein weniger ernstzunehmendes, von den eigentlich bedeutsamen Dingen zu trennendes, Feld betrachtet wird. Der englische Historiker Peter Borsay möchte diese Wahrnehmung mit seiner Synthese einer Geschichte der Freizeit seit 1500 am Beispiel Großbritanniens ändern. Freizeit wird dabei von Borsay nicht als vom "Eigentlichen" losgelöste Gegenwelt begriffen, sondern als ein Handlungsraum eigener Qualität, der gleichwohl mit der "eigentlichen" Welt eng verbunden ist. Indem er Freizeit in ihrem Verhältnis zu Staat, Ökonomie, sozialer Schichtung, Identität, Nation sowie in Raum und Zeit darstellt, etabliert Borsay Freizeit als einen bedeutenden Faktor britischer Geschichte. Dabei analysiert er gleichermaßen Kontinuität und Wandel und berücksichtigt eine Vielzahl möglicher Formen der Freizeitgestaltung von der Fest- und Feierkultur über Musik bis hin zu Tourismus und Sport.

Seinem Ansatz entsprechend definiert Borsay Freizeit nicht, wie dies häufig in der von ihm diskutierten Forschung geschieht, als Gegenbegriff, etwa zur Arbeit (Einleitung, 1-16). Borsay kennzeichnet Freizeit vielmehr von ihr eigenen Qualitäten her: "Symbol", "Play" and "Otherness" macht er als entscheidende Kriterien fest, die eine Analyse von Freizeit über die lange Periode von 500 Jahren erlauben. Den in der Forschung stets herausgestellten Einschnitt der Industriellen Revolution betrachtet Borsay lediglich als eine von insgesamt sechs wichtigen Zäsuren; weitere Etappen markieren etwa Reformation, Weltkriege und die 1960er Jahre.

Freizeit wurde im Verlauf der letzten fünfhundert Jahre mit wachsendem Wohlstand für immer breitere Schichten der Bevölkerung zunehmend bedeutsam. Damit gewann Freizeit auch ökonomisch an Bedeutung (Kapitel 2: Ökonomie, 17-41). Trotz wachsender Kommerzialisierung macht Borsay es jedoch als Charakteristikum der Freizeitindustrie aus, dass sie bis heute nicht vollständig den Gesetzen des Marktes unterliegt. Wie er u.a. am Beispiel des Engagements von Amateuren auf verschiedenen Feldern zeigt, lassen sich Freizeit und ökonomische Effizienz nicht einfach verbinden. Gleichwohl macht die wirtschaftliche Ausschöpfung von Freizeit nicht erst seit der Moderne ihre Attraktivität für die hier tätigen Akteure aus. Ökonomische Aspekte bestimmen teilweise auch das Interesse staatlicher Gewalten an der Freizeit (Kapitel 3, 42-73). Das Interesse des Staates an Freizeit bewertet Borsay im Gegensatz zu mancher von ihm diskutierten Forschung als in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen: Nicht nur sein Anteil am hier erwirtschaften Profit, auch die im Kontext der Freizeit erzeugten Imaginationen sowie Aspekte der Sicherheit und Ordnung lenkten den herrschaftlichen Blick und ggf. Intervention.

Das Herzstück des Buches macht Borsays Darstellung von Freizeit als Arena für die Aushandlung und Demonstration gesellschaftlicher Ordnungen aus (Kapitel 4: Klasse, 74-106; Kapitel 5: Identitäten, 107-143, Kapitel 6: "Place", 145-166). Auf kaum einem anderen Feld lassen sich Wohlstand, Status und Macht derart deutlich repräsentieren wie hier. Ja, Freizeit selbst stellt eine bedeutsame Form kulturellen Kapitals dar. Entsprechend verschieden sind die Möglichkeiten und Formen der Freizeitgestaltung in den von Borsay unterschiedenen drei sozialen Klassen (upper, middle, working class). Zwar betont der Autor die stete Interaktion zwischen den Klassen und den Austausch ihrer Freizeitaktivitäten in Zeit und Raum, doch ergeben sich daraus insgesamt seiner Ansicht nach weniger Nivellierungen als vielmehr Betonungen von Differenz. Dies gilt auch für Zuschreibungen von Geschlecht, Rasse, Spezifika der Lebensalter oder die Festschreibung gesellschaftlich erwünschter Lebensformen: Auch sie werden über und in der Freizeit ausgehandelt. Dominant werden hier im Laufe der Zeit etwa das Idealbild des weißen Mannes im mittleren Alter sowie das der Mittelklassefamilie. Freizeitaktivitäten erweisen sich schließlich auch als Feld der Integration bzw. Lösung aus dem nationalen Verbund. Sport und Musik dienten der Demonstration schottischen oder irischen Nationalstolzes ebenso, wie sich Nationalismus überhaupt in Borsays Darstellung nicht ausschließlich als politische Ideologie, sondern auch als eine Form der Rekreation erweist, die schnell in Revolte, Protest, Ablösung mündet.

Die Faszination am Anderen macht Borsay als eine Triebkraft touristischer Motivation aus (Kapitel 7: Raum, 167-191). In der Spätmoderne sieht er die ursprüngliche Trennung von Orten verschiedener Destination aufgehoben, die De-Differenzierung von Räumen und ihrer Funktionen sei vielmehr charakteristisch. Auf dem Weg dorthin erwiesen sich allerdings die Trennung von Stadt und Land sowie im Zuge der Industrialisierung die Exotisierung der eigenen Country-Side als wichtige Etappen. Auch Zeit (Kapitel 8, 192-215) erfährt im Zuge der Moderne eine immer stärkere Umwertung: von aufgabenorientierter Zeit hin zur gemessenen Zeit, ohne dass sich jedoch letztere vollständig durchgesetzt hätte. Insgesamt gewinnt die Zeit, die zur freien Verfügung steht, an Bedeutung. Im Zuge dieser Entwicklung wird heutzutage die Zeit selbst in Gestalt der (virtuellen) Zeitreise zu einer besonders beliebten Freizeitaktivität, die die Faszination am Anderen von den fernen Stränden weg hin in die heimische Vergangenheit verlegt.

Borsay ist mit seiner nur knapp 230 Seiten umfassenden Darstellung (plus Fußnoten, Literatur und Index) eine sich in beeindruckender Weise auf das Wesentliche beschränkende und zugleich kritisch argumentierende Gesamtschau eigener wie fremder Forschungsleistungen gelungen. Insgesamt überzeugt die Studie in vieler Hinsicht. Sie wirft jedoch in ihrer Konzeption sowie im Detail auch Fragen auf. So würde eine stärkere Kontextierung des britischen Beispiels innerhalb Europas unter Einbeziehung der entsprechenden Forschungen die internationale Rezeption des Buches vermutlich erleichtern. Hier überlässt der Autor die Beurteilung von Besonderheiten und die Einordnung seiner Ausführungen gänzlich dem/der Leser/in. Dies ist umso bedauerlicher, als vieles von dem hier Skizzierten durchaus auch für andere westliche Gesellschaften gilt, während die ausgeprägte Vorliebe für Pferdewetten, Cricket, Fuchsjagd oder einige nationale Konfliktlagen eher spezifisch für Großbritannien erscheinen. Auch die Formen und Praktiken der Freizeitgestaltung, die hier eher nebenher unter den einzelnen Kapitel abgehandelt werden, hätten - zumal angesichts ihrer Fülle und Verschiedenheit - ein eigenes Kapitel verdient. Gelegentlich führt die Knappheit der Ausführungen zu Pauschalisierungen. Wenn etwa die spätmoderne Hinwendung zum (Haus-)Tier als Surrogat für die Ausübung von Macht- und Herrscherwillen klassifiziert wird, die den frühen Missbrauch von Dienstboten und Sklaven ersetze (142-144), so vermag dies nicht nur angesichts der etwa von den Animal Studies differenziert untersuchten Fülle gelebter Beziehungen zwischen Menschen und Tieren nicht zu überzeugen. Auch die Skizzierung der Freizeitgestaltung der Arbeiterklasse als "deeply competitive, heavy drinking and rowdiness" läuft in ihrer Stereotypisierung Gefahr, für eine Wiederholung bürgerlicher Vorurteile gehalten zu werden. Ob man Wales, Schottland, Irland und England als ein einheitliches - wenn auch in Spannung stehendes - ökonomisches, soziales, politisches System historisch herleiten kann (162), ist vor dem Hintergrund der in diesem Kapitel ausgeführten Konflikte nicht völlig überzeugend.

Solchen "Reibungspunkten" stehen mehrheitlich allerdings erfreulich differenzierte Ausführungen gegenüber. Etwa wenn der Autor dem im 19. Jahrhundert insbesondere hierzulande liebgewonnenen und erstaunlich langlebigen Vorurteil der gemeinschaftszerstörenden Industrialisierung und unsozialen modernen Großstadt das Bild des lebendigen sozialen Miteinander stiftenden Lebens in städtischen Nachbarschaften entgegenhält. Borsays Studie gelingt es, Freizeit als einen machtvollen Handlungsraum besonderer Qualität dar zu stellen. Freizeit ist eine Arena, in der der Umgang mit Otherness, Symbol und Play kombiniert werden, um über einen langen Zeitraum hinweg mit Freude, wachsenden Möglichkeiten und auf immer breiterer Basis gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Gegebenheiten auszuhandeln.

Michaela Fenske