Rezension über:

Ingrid Miethe / Martina Schiebel: Biografie, Bildung und Institution. Die Arbeiter-und Bauern-Fakultäten in der DDR. Unter Mitarbeit von Enrico Lippmann und Stephanie Schafhirt (= Biographie- und Lebensweltforschung; Bd. 6), Frankfurt/M.: Campus 2008, 364 S., 8 Abb., 4 Tabellen, ISBN 978-3-593-38604-1, EUR 39,90
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Rezension von:
Gert Geißler
Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Gert Geißler: Rezension von: Ingrid Miethe / Martina Schiebel: Biografie, Bildung und Institution. Die Arbeiter-und Bauern-Fakultäten in der DDR. Unter Mitarbeit von Enrico Lippmann und Stephanie Schafhirt, Frankfurt/M.: Campus 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8 [15.07.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/07/14697.html


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Ingrid Miethe / Martina Schiebel: Biografie, Bildung und Institution

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Die Studie ist Teil eines größeren, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojekts zur Geschichte der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) Greifswald. Bereits die aus diesem Forschungszusammenhang hervorgegangene, 2007 erschienene Publikation von Ingrid Miethe über "Bildung und soziale Ungleichheit in der DDR" wird man als eine der bemerkenswertesten Leistungen jüngerer bildungshistorischer DDR-Forschung bezeichnen können.

Bei der hier vorzustellenden zweiten Studie handelt es sich um eine biografische Institutionenanalyse. Zunächst trifft der Leser auf längere Erläuterungen des theoretischen, methodischen und methodologischen Ansatzes. Es kann sein, dass ihn diese zwar von der fachlichen Kompetenz der Autorinnen voll überzeugt, aber inhaltlich noch nicht so recht gefesselt haben. Im Anschluss daran folgt eine Abhandlung, die durch den Wechsel der Analyseebenen, von Datenbasis und Methode besticht. So erlebt der Leser gleichsam "hautnah" Geschichte. Die Beurteilung ist geprägt durch eine nüchtern-kritische Distanz und ein hohes Maß an Sachlichkeit.

Nach einer profunden historischen Skizze, mit der die Institution in den gesamtgesellschaftlichen Kontext rückt, führt der Text zu unmittelbar verantwortlichen Akteuren des historisch-institutionellen Geschehens, zum Lehrkörper der ABF in Greifswald. Die Autorinnen gehen den Rekrutierungswegen der Lehrpersonen nach, stellen die Einstellungskriterien fest und entwickeln anschließend eine Typologie von Lehrenden: Den Typus der "Alten Garde", des "Alten Studienrates", des "Nachkriegsdozenten", dann der "Selbstrekrutierten" - also jener Personen, die später über den Abschluss der Oberschule in der DDR zu ABF-Lehrkräften wurden. Das Aufschließen allgemeiner und spezifischer Zeitverhältnisse gewinnt nachfolgend nochmals an Kraft, indem anhand biografisch-narrativer Interviews hermeneutische Fallrekonstruktionen vorgenommen werden.

Mit der Kombination von Ego-Dokumenten, archivalischen Quellen und solchen, die durch Gespräch und Nachfragen erzeugt sind, verfügt die Abhandlung über eine Quellenbasis, mit der Institutionengeschichte und Lebensgeschichten überzeugend als ein "interaktives Verhältnis" beschrieben werden können. Entsprechend steht die "Passung zwischen Biografie und Institutionen" (322) im Blick. Dabei wird auch deutlich, wie hierarchisch-autoritäre Grundsozialisationen, aber auch bildungsbürgerliche Traditionen und Mentalitäten, nicht weniger säkularisierte protestantische Arbeitsethik, teils auch bloße, nahezu beliebig steuerbare "identifikatorische Mimesis" (für die später, in anderen Zusammenhängen, der "Wendehals" stehen wird) das institutionelle Klima zumindest an der ABF in Greifswald mitbestimmten. Die Autorinnen setzen die Passungsverhältnisse sodann in ein Kräftefeld von totalitär intendierter Herrschaftsausübung und Herrschaftssicherung. Sie konstatieren, dass die Beteiligten unterschiedliche Handlungsräume hatten, nutzten und gestalteten, auf diese Weise die Institution mit schufen und ihr eine je spezifische Prägung gaben. Als Untersuchungsergebnis halten sie fest, dass Institutionalisierung nicht nur Ergebnis administrativer Entscheidungen und zentraler Vorgaben, sondern auch sozialen Handelns ist.

So wie die Autorinnen ihren Gegenstand fassen, Geschichte verstehen und präsentieren, könnten sie, wären sie nicht Sozialwissenschaftlerinnen, wohl auch Romane oder Theaterstücke schreiben - der Stoff jedenfalls gibt das her. Aber auch die Sozialwissenschaft hat ihre Möglichkeiten. Leser, die Meinungen im Sinne der hier vorgelegten Forschungsergebnisse notgedrungen auf Erleben bauen, also schlichtes, unaufgeklärtes Alltagsbewusstsein repräsentieren, werden sehen, dass sie sich deshalb nicht unbedingt geirrt haben müssen.

Gert Geißler