Rezension über:

Christian Geulen: Geschichte des Rassismus, München: C.H.Beck 2007, 128 S., ISBN 978-3-406-53624-3, EUR 7,90
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Rezension von:
Frank Becker
Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Frank Becker: Rezension von: Christian Geulen: Geschichte des Rassismus, München: C.H.Beck 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 7/8 [15.07.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/07/13281.html


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Christian Geulen: Geschichte des Rassismus

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Die knappen Einführungen aus der Reihe C.H. Beck Wissen, in der Regel kaum mehr als hundert Seiten stark, erfreuen sich beim Lesepublikum seit vielen Jahren großer Beliebtheit. Das Spektrum möglicher Themen scheint fast unbeschränkt; für das Fach Geschichte finden sich Bände zu großen historischen Ereignissen neben Biografien; Darstellungen von Staaten, Städten, Völkern und Epochen neben Abrissen zur sektoralen Geschichte. Seit neuerem liegt auch eine "Geschichte des Rassismus" vor. Ihr Autor ist Christian Geulen, Juniorprofessor an der Universität Koblenz-Landau und 2004 mit einer einschlägigen Studie über "Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert" hervorgetreten. [1]

Im Konsens mit der neueren Forschung widerspricht Geulen jeder essentialistischen Auffassung seines Gegenstands: Rassen sind in der Realität nicht vorfindbar, sondern Konstrukte des menschlichen Bewusstseins, das solche Einteilungsprinzipien verwendet, um die Welt zu ordnen und den eigenen Standort zu definieren. Im Gegensatz zu anderen Einteilungsprinzipien besitzt der Rassismus die Eigenschaft, dass sich seine Theorie und seine Praxis wechselseitig zu bestätigen scheinen. Rassistisches Verhalten zeigt vermeintlich an, dass es ein ursprüngliches Rassenbewusstsein und ein ebenso instinktives Ressentiment zwischen den Rassen gibt. Umgekehrt verschafft sich das Ressentiment bei den Rassentheorien seine intellektuelle Rechtfertigung. Im Ergebnis schaukeln sich Theorie und Praxis des Rassismus gegenseitig auf, ein fataler Konnex, dem diese Ideologie ihre besondere Dynamik verdankt.

Die Entstehung des Rassismus verortet der Verfasser nicht bereits in der Antike, sondern erst in der spanischen Reconquista des 15. Jahrhunderts. Damit ein religiös homogenes Spanien entstehen konnte, wurden die Juden dazu gezwungen, den katholischen Glauben anzunehmen. Vielfach verdächtigte die Obrigkeit sie, diesen Schritt nur formal vollzogen zu haben, tatsächlich aber weiterhin ihrer tradierten Religion anzugehören. Gegen einen bestimmten Teil der katholischen Bevölkerung richtete sich also der Verdacht der Heuchelei - gegen jenen Teil, der durch seine ethnische Zugehörigkeit von der Mehrheit der Katholiken unterscheidbar war. Um die Gruppe der Verdächtigen zu definieren, verwendete man den Begriff der jüdischen Rasse. Als am Ende des 15. Jahrhunderts die Neue Welt für Europa entdeckt wurde, ergaben sich weitreichende, bald den gesamten Globus umspannende Perspektiven für die Verwendung des neuen Terminus. Schon bald sorgte der berüchtigte "Dreieckshandel" dafür, dass Millionen von Afrikanern versklavt wurden. Wieder erwiesen sich, so der Verfasser, die Theorie und Praxis des Rassismus als miteinander verschwistert - die Einstufung der Schwarzen als am niedrigsten stehende Rasse resultierte aus ihrer faktischen Unterwerfung, die sich umgekehrt dieser Rassenhierarchie zu ihrer Rechtfertigung bediente.

Im 18. Jahrhundert wurde das Rassendenken, das bislang vor allem den Blick nach außen geprägt hatte, d.h. auf eine klassifizierende Einteilung der Menschheit zielte, mehr und mehr auch für die innere 'Policey' der Staaten bedeutsam. Im Anschluss an Foucault setzt Geulen die absolutistische Bevölkerungspolitik mit einer Biopolitik gleich, die der Gesundheit und dem Gedeihen eines 'Kollektivkörpers' verpflichtet war. Das 19. Jahrhundert führte einen neuerlichen Paradigmenwechsel herbei, indem es den Rassenbegriff historisierte; die Evolutionstheorie stellte die Genese aller Lebewesen in einen Kontext von Zufall und Notwendigkeit, der auch die Entwicklung der Rassen für prinzipiell zukunftsoffen erklärte. Umso dringender schien die Notwendigkeit zur Intervention; 'Rassenpflege' und Eugenik nach innen, Verdrängungswettbewerb und Existenzkampf nach außen waren die vermeintlichen Handlungskonsequenzen. Dabei hüllte sich der Rassismus mehr und mehr in das Gewand von Wissenschaft und Sozialtechnologie. Die Domestizierung der Sexualität durch die viktorianische Moral trug ebenso wie die Hygienebewegung der Tatsache Rechnung, dass von der Fortpflanzung der Individuen das Wohl und Wehe des gesamten Volkskörpers abhing. Der Politik bot der Begriff der Rasse ein alternatives Ordnungsmodell zu Staat und Nation; gerade im Zeitalter des Imperialismus kam es den europäischen Mächten gelegen, die in die Kolonien abwandernden Menschen unabhängig von Territorium und Staatsangehörigkeit allein aufgrund ihrer Abstammung weiterhin für zugehörig erklären zu können.

Blieben die rassistischen Projekte des 19. Jahrhunderts aufgrund der Beharrungskräfte von Religion und traditioneller Sozialordnung zumeist noch ohne greifbare Konsequenzen, so sah das 20. Jahrhundert einerseits ihre weitere theoretisch-wissenschaftliche Radikalisierung, andererseits die wachsende Bereitschaft zu ihrer praktischen Durchsetzung. Beides kulminierte im Nationalsozialismus, der die Vernichtung der Juden zur unabdingbaren Voraussetzung für das Fortexistieren des deutschen Volkes erklärte. Mehr noch: Der Antisemitismus der Hitlerbewegung erklärte den jüdischen Rassenfeind zur Wurzel allen Übels in der Welt; die Bekämpfung dieses Feindes nach außen - im Krieg - und nach innen - im Rassenbürgerkrieg - wurde zum Versuch einer Rettung der Menschheit stilisiert. Diese Auffassung ließ die Täter in den Konzentrationslagern zu den Vollstreckern eines geschichtsphilosophischen Auftrags werden; sie wähnten sich völlig frei von persönlicher Schuld und Verantwortung. Umgekehrt wurde auch die massenhafte Tötung der eigenen Bevölkerung im Bombenkrieg als Ausdruck eines Existenzkampfs der Rassen interpretiert. Die Gewaltexzesse der Jahre 1944/45, auch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, machten rassistische Positionen scheinbar plausibel.

Der Untergang des Nationalsozialismus führte zu einer weltweiten Ächtung des expliziten Rassismus. Das Apartheidregime in Südafrika gehörte zu den Ausnahmen, die diese Regel bestätigten. Dennoch blieb ein impliziter Rassismus an vielen Orten der Welt virulent, nicht nur dort, wo die Europäer ihre Kolonialherrschaft aufrechterhielten, sondern zum Beispiel auch in den USA, wo die Diskriminierung der Afroamerikaner fortbestand. Erst die Dekolonisierungs- und Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre stellte auch diese Formen von Rassismus an den Pranger. Dass von einer vollständigen Durchsetzung des Antirassismus jedoch keine Rede sein kann, macht Geulen nicht nur an den Massakern im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda fest, sondern auch am Boom der Molekulargenetik, die manche Prämisse mit der Eugenik teilt: Sie schafft die Grundlage für eine biologische Optimierung des Individuums und - potenziell - auch der gesamten Gesellschaft. An die Stelle einer Kontrolle der Fortpflanzung, wie sie die Eugenik projektierte, tritt eine Kontrolle der Erbinformation, die bei der Fortpflanzung weitergegeben wird bzw. weitergegeben werden könnte. Sobald die möglicherweise unerwünschten Merkmale im Genom identifiziert sind, werden sie prinzipiell eliminierbar. Macht man die Möglichkeit, solche Interventionschancen zu nutzen, von der Zahlungsfähigkeit des Individuums abhängig, wie es sich in den westlichen Marktgesellschaften abzeichnet, droht eine biologische Verfestigung von Klassengegensätzen; zieht sie der Staat an sich, kann ein ungeahnter neuer Totalitarismus der Menschenzüchtung die Folge sein.

Die Behauptung einer Verwandtschaft von Gentechnik und Rassismus deutet bereits an, dass Geulen seinem Abriss einen sehr weit gefassten Rassismusbegriff zugrunde legt. "Rassismus", pointiert er seine Überlegungen am Schluss des Buches, beginnt dort, "wo Menschen der Ansicht sind, daß die Bekämpfung bestimmter Gruppen anderer Menschen die Welt besser mache" (119). Insofern überrascht es nicht, dass der Autor auch im "Kampf der Kulturen" nach dem 11. September 2001 Rassismus am Werke sieht. Der stalinistische Klassenmord erfüllt das genannte Kriterium ebenfalls; Geulen sieht sich darüber hinaus durch die Bedeutung der Eugenik für die sowjetischen Sozialingenieure bestätigt. Auf der einen Seite sollte durch Erziehung und biologische Intervention ein Neuer Mensch geschaffen, auf der anderen Seite derjenige Bevölkerungsteil bekämpft und vernichtet werden, der dessen Siegeszug im Wege stand. Es bleibt zweifelhaft, ob diese extreme Ausweitung des Rassismusbegriffs wirklich erhellend ist. Die "Erziehungsdiktatur", die sich eugenischer Methoden bediente und einen millionenfachen Klassenmord durchführte, stellte doch wohl eher eine Herrschaftsform sui generis unter den Gewaltregimes des 20. Jahrhunderts dar.

Auch wenn man nicht allen Thesen des Autors folgen mag, bietet das Buch, gerade wegen seines Mutes zur Pointierung, eine ausgesprochen anregende Lektüre. Wie es nicht vielen Einführungen gelingt, bedient der Band gleichzeitig zwei unterschiedliche Ebenen: Er stellt in gut strukturierter Weise Grundwissen bereit, und er fordert mit seinen bündigen Urteilen zur Auseinandersetzung und Diskussion heraus. Anders formuliert: Der Leser hat nicht nur eine zuverlässige Einführung aus der Feder eines ausgewiesenen Experten zur Hand, sondern kann sich auch an einem thesenstarken Essay abarbeiten.


Anmerkung:

[1] Vgl. hierzu die Rezension von Armin Owzar, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 7/8 [15.07.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/07/6107.html

Frank Becker