Rezension über:

Désirée Schauz / Sabine Freitag (Hgg.): Verbrecher im Visier der Experten. Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert (= Wissenschaft, Politik und Gesellschaft; Bd. 2), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, 334 S., ISBN 978-3-515-09055-1, EUR 39,00
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Rezension von:
Thomas Roth
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Roth: Rezension von: Désirée Schauz / Sabine Freitag (Hgg.): Verbrecher im Visier der Experten. Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 9 [15.09.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/09/13791.html


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Verbrecher im Visier der Experten

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Die historische Kriminalitätsforschung hat auch im deutschen Sprachraum eine Stetigkeit und institutionelle Verankerung entwickelt, dass man nicht mehr von einem Boom sprechen muss, sondern getrost von einem fest etablierten Forschungsfeld ausgehen kann. Das vorliegende Buch belegt dies und zeigt zugleich, dass auch auf erschlossenem Terrain noch Raum für Neuentdeckungen und Vertiefungen ist. Die Publikation geht zurück auf eine von der DFG geförderte Tagung aus dem Jahre 2005, auf der meist jüngere, thematisch bereits ausgewiesene Vertreterinnen und Vertreter des Fachs über "wissenschaftliche Deutungsmacht bei der Konstruktion von Kriminalität und Strafe" diskutiert hatten.

Ausgangspunkt der Tagung und des Sammelbandes waren die fundamentalen Veränderungen, die der gesellschaftliche Umgang mit Kriminalität und Strafe im langen 19. Jahrhundert erfuhr: einmal aufgrund der Entstehung und Ausdifferenzierung der Kriminalwissenschaften, zum zweiten durch den Ausbau staatlicher Institutionen, die sich Verbrechen und Strafen mit zunehmendem Interesse für wissenschaftliche Expertise widmeten sowie drittens durch den daraus entstehenden Anspruch, das bisherige, um Schuld und Vergeltung entwickelte Strafparadigma über grundlegende kriminalpolitische Reformen zu ändern. Zur Kennzeichnung dieses Wandels rekurriert die Forschung immer wieder auf bestimmte Interpretationslinien und Erzählfiguren: Demnach habe sich die "Verwissenschaftlichung" von Kriminalitätsdiskurs und institutionellen Praktiken gegen Ende des Jahrhunderts vor allem in einer zunehmenden "Medikalisierung" niedergeschlagen und einen veränderten Zugriff auf den "Verbrecher" herbeigeführt. Straftäter seien immer weniger als moralisch "verworfene" oder sozial benachteiligte Personen, sondern als konstitutionell belastete, charakterlich "defekte" Menschen betrachtet worden. Der zu Beginn des Jahrhunderts noch verbreitete Erziehungs- oder besser: Disziplinierungsoptimismus wich einer Kriminalpolitik, die auf erbbiologisches Screening, psychiatrische Diagnostik und kriminologische Prognosen sowie eine systematische Ausschließung der als "gefährlich" und "sozialschädlich" markierten "Verbrechermenschen" setzte.

Der von Désirée Schauz und Sabine Freitag edierte Band greift diese Deutungen zustimmend auf, plädiert aber für eine differenziertere Betrachtung. Er fragt, inwieweit wirklich von einer linearen Verwissenschaftlichung und Medikalisierung des Kriminalitätsdiskurses die Rede sein kann und spricht sich für eine stärkere Historisierung der Konzepte aus. Den Autorinnen und Autoren geht es nicht so sehr darum, Erfolge oder Defizite der Verwissenschaftlichung zu bilanzieren, sondern die Prozesse zu analysieren, in denen Wissenschaft und Expertentum konstruiert, definiert und durchgesetzt wurden. "Verbrecher im Visier der Experten" richtet den Blick auf die Vielfalt der Ansätze und Akteure innerhalb der modernen Kriminalwissenschaften und untersucht, wie kriminologisches Wissen zivilgesellschaftlich verarbeitet, politisch nutzbar gemacht und praktisch umgesetzt wurde. Damit rücken auch bisher eher unbeachtete Formationen, Arenen und Ebenen des Kriminalitätsdiskurses in den Blick.

Der Band, der kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Ansätze mit institutionen-, politik- und sozialgeschichtlichen Zugriffen verbindet, wird eröffnet von einer kompakten und souveränen Einführung der Herausgeberinnen. Eine erste Sektion "Kriminalpolitische Expertenforen und ihr Personal" widmet sich der im frühen 19. Jahrhundert aufblühenden Gefängniskunde, der internationalen Vernetzung gefängniskundlicher Experten und den Austauschprozessen im Rahmen der 1889 gegründeten Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (Lars Hendrik Riemer, Martina Henze, Sylvia Kesper-Biermann). Der zweite Teil des Bandes - "Kriminologisches Wissen zwischen Alltagserfahrung, wissenschaftlichem Anspruch und politischer Strategie" - untersucht die Entwicklung der Kriminalstatistik in Deutschland und England sowie ihre Nutzung als wissenschaftliches Erkenntnis- und politisches Legitimationsmittel, um dann die Verwissenschaftlichungs- und Medikalisierungstendenzen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unter geschlechtergeschichtlichen Gesichtspunkten zu diskutieren (Sabine Freitag, Andreas Fleiter, Karsten Uhl, Thomas Kailer). Die dritte Sektion unter dem Titel "Expertenwissen und Strafpraxis" knüpft hieran an und analysiert das Verhältnis von Kriminalwissenschaft und institutioneller Praxis anhand des sächsischen Gefängniswesens, des badischen Frauenstrafvollzugs, der Rheinisch-Westfälischen Gefängnisgesellschaft, der Verfahren Berner Strafgerichte und der Bemühungen europäischer Kriminalpolizeien um ein koordiniertes Vorgehen gegen das "internationale Verbrechertum" (Falk Bretschneider, Sandra Leukel, Désirée Schauz, Urs Germann, Jens Jäger).

Natürlich wäre es geboten, Profil und Argumentation der Einzelbeiträge eingehender zu würdigen. Der vorliegende Band lässt sich aber auch als "Gemeinschaftswerk" lesen. Er profitiert vom dichten Diskussionszusammenhang, aus dem die Arbeiten entstanden sind, und von gemeinsamen theoretischen Präferenzen, die vor allem der Wissenssoziologie und Diskursanalyse gelten. Da alle Beiträge umsichtig argumentieren und ihr Thema tief in den Forschungskontext einbetten, ergeben sich viele gegenseitige Bezüge, so dass sich die Themen des Bandes auch quer zu den einzelnen Sektionen entfalten. Wenn Rezensionen immer öfter die Disparatheit von Sammelbänden beklagen - hier liegt ein gut komponiertes Gegenbeispiel vor.

"Verbrecher im Visier" zeigt nicht nur die Vielstimmigkeit kriminalwissenschaftlicher Experten sowie unterschiedliche Wege und Strategien der Verwissenschaftlichung, er macht auch auf Blockaden und Brüche aufmerksam. Wenngleich der wissenschaftliche Zugriff auf die "Welt des Verbrechens" prägend wurde, behielten Alltagstheorien und "vorgängiges Wissen" (26) für das Handeln von Experten und Praktikern große Bedeutung. Die neuen wissenschaftlichen Anschauungen erreichten Strafrecht, Rechtsprechung und Gefängnisalltag auch deswegen nur zum Teil, weil es an politischer Unterstützung, finanziellen Ressourcen oder geeignetem Personal fehlte.

Ein wichtiges Ergebnis des Bandes ist es, die These von der unaufhaltsamen "Diffusion" (279) und unbestrittenen Dominanz biologischer und psychiatrischer Deutungsmuster gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu relativieren. Die Medikalisierung von Kriminalwissenschaften und -politik traf nicht nur auf Gegenwehr von Strafrechtlern, sie stieß sich auch an persistenten sozialreformerischen, -moralischen oder religiösen Auffassungen. Am Fall Englands lässt sich zeigen, auf welche Weise die Stärke philanthropischer Tradition und der Glaube an eine von verantwortlichen Individuen getragene Gesellschaft (165) die Durchsetzung von biologischen Erklärungsmodellen und eugenischen Praktiken bremsen konnten.

Gleichwohl gehen die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes nicht von einem "Scheitern" der Medikalisierung aus. Der ärztliche Zugriff auf Verbrechen und Verbrecher fand nicht ungebrochen Zustimmung, verunsicherte aber die "eingespielten" Institutionen, Verfahren und Akteure an den Gerichten, in den Strafanstalten oder der Straffälligenfürsorge so stark, dass Arrangements zwischen ärztlicher Expertise und richterlicher Kompetenz, biologischen und moralischen Kriminalitätskonzepten, Ausschließungs- und Erziehungsprogrammen gesucht wurden. Auf diese Weise entstand - zumindest in Deutschland - ein Basiskonsens, der den ärztlichen Zugriff auf die "konstitutionell belasteten" Kriminellen anerkannte und die Aussonderung einer Teilgruppe von "Minderwertigen" oder "Unverbesserlichen" für unerlässlich erklärte.

Natürlich deckt auch die vorgestellte Publikation nicht alle Facetten des Themas ab. Während sich der Sammelband auf Strafvollzug und Strafrecht konzentriert, sollten künftig auch Institutionen wie Polizei oder Fürsorge stärker in das entwickelte Forschungsdesign einbezogen werden. Die weitere Entfaltung einer international vergleichenden Betrachtung von Verwissenschaftlichungs- und Medikalisierungspfaden ist wünschenswert. Und dass eine engere Verknüpfung von Kriminalitäts- und Mediengeschichte wissenschaftshistorisch produktiv ist, haben jüngere Studien zur Kriminalberichterstattung oder Gerichtsreportage aufgezeigt.

Das ändert aber nichts an dem überzeugenden Gesamteindruck der Publikation. Ihr gelingt es nicht nur, "die Komplexität des Strafsystems und der gesellschaftlichen Zuschreibungsprozesse" (10) im Europa des 19. Jahrhunderts vor Augen zu führen. Sie fördert auch ein erweitertes Verständnis von Verwissenschaftlichung, das Prozesse des "Aushandelns" und der "Aneignung" betont (24, 292), offen ist für die Formung von Wissen in verschiedenen institutionellen Feldern und Interaktionsräumen und die lange Zeit übliche Vorstellung von vorausgehendem theoretischen Fortschritt und nachholendem praktischen Vollzug in Frage stellt. Mit diesen grundsätzlichen Einsichten weist die Publikation weit über den von ihr gezogenen zeitlichen Rahmen hinaus. Wer zur Kriminalitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts forscht, die Entwicklung von Kriminologie und Verbrechensbekämpfung, gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen und Exklusionspolitiken in den europäischen Diktaturen untersucht oder den gebrochenen Liberalisierungsprozessen nach dem Nationalsozialismus nachgehen will, wird hier ohne Zweifel wertvolle Anregungen finden.

Thomas Roth